Urs Odermatt Arnold Odermatt The Odermatt Channel The Odermatt Shop Nordwest Film AG, alte Spinnerei 1, 5210 Windisch, Schweiz, +41 56 442 95 90, mail@nordwestfilm.ch Theater Stück Dramaturgie Inszenierung Presse Photos

Ein bedrückendes Thema. Nicht erst seit Aids ist der Griff zur Nadel der zuverläßigste Tod auf Raten. Bis dahin stehen dem Süchtigen meist nur noch ein paar hektische Monate, höchstens Jahre zwischen Beschaffungskriminalität und Strich offen. In der kurzen Frist zerbricht alles, was an sozialer Bindung noch da war. Der Kontakt zur Familie, zu Freunden, weicht der innigen Beziehung zum Dealer, zum Herrn des Stoffs. Dergleichen ist oft beschrieben worden, hat im schaurigen Grusel der Kinder vom Bahnhof Zoo Rekordauflagen erreicht und verbindet beim Lesen moralischen Nährwert mit angenehm gleitender Problemverdauung.

 

Rein materiell ähnelt der Vorgang dem Anfang des Theaterstücks nach Irvine Welshs Roman Trainspotting. Mark wacht auf, sagt „verdammte Scheiße“ und beschreibt dann mit einiger Akribie seinen Zustand. Er liegt in braunen, stinkenden Laken, ein nicht ungewöhnlicher Morgen nach der einschlägig verbrachten Nacht eines Junkies. Damit endet aber auch schon jede Parallele, denn mitleidsethisch aufbauend sind weder Buch noch Stück.

 

Wie Danny Boyles Kultfilm. In seiner berühmtesten Sequenz steht Mark, den nach dem Genuß von zwei Opiumzäpfchen ein plötzliches Erleichterungsbedürfnis überkommt, vor einer Tür mit der einladenden Aufschrift „Die dreckigste Toilette Schottlands, in deren kniehoch gefülltes, braunschorfiges Porzellan er erst seine Därme entlädt, um anschließend auf der Suche nach seinen wertvollen Zäpfchen in die Brühe abzutauchen. Die Szene über das Glück in der Soße ruft mit ihrem drastisch-lapidaren Humor ein bislang einzigartiges Zusammenwirken von Lach- und akutem Brechreiz hervor. Denn die feindlichen physiologischen Reaktionen setzen zeitgleich ein, stehen dann etwas verdutzt voreinander, weil das eine mit dem anderen partout nicht funktionieren will, und hinterlassen das betroffene Subjekt in angeregt neutralisiertem Zustand: zwar lachbereit, doch im Mund der Geschmack von saurem Magen. Dem Film hat diese Überfallstaktik den völlig ungerechtfertigten Vorwurf eingetragen, das Drogenproblem zu verharmlosen, dem Zuschauer ein Gefühl, das ihn bei diesem Thema schon lange nicht mehr erfüllt hat – komplette Überrumpelung.

Franz Wille

Theater Heute, Berlin, 6/97

 

*

 

Und? Fühlen Sie sich nun auch überrumpelt? Sagen Sie zum ersten Absatz „das wußte ich schon“ und zum zweiten „das muß ich nicht sehen“? Müssen Sie auch nicht. Auch wenn Irvine Welshs Trainspotting zum erstenmal in der Schweiz auf einer Bühne gezeigt wird: Wir sind uns bewußt, daß der Roman schon 1993 erschien, kurz danach kam der Film und die Bühneninszenierungen. Damit ist die Geschichte einer Gruppe von Mehrfachabhängigen im schottischen Edinburgh ziemlich genau so alt wie der liberale Schweizer Kurs in Sachen Sucht, den die hiesige Drogenpolitik seit 1992 verfolgt. Ob sich die Dinge dadurch zum Besseren oder zum Schlechteren entwickelt haben, ist wohl noch nicht abschließend zu sagen. Sicher ist: Sucht ist sichtbar in St.Gallen, allen Wegweisungen zum Trotz. Am Hauptbahnhof, im Stadtpark, um das Theater herum, in den Fußgängerzonen, Unterführungen und Bussen. Am Marktplatz kündete lange ein Kranz von einer tödlichen Messerstecherei in der Drogenszene. Doch das sind nur die dramatischen Ausschläge am oberen Ende der Skala, die Sensationen am Rande. Sucht hat auch ein Alltagsgesicht.

 

Torkelnde Teenager am Bohl. Bierselige Burschenschaften. Kiffende Kinder auf dem Weg zur Kantonsschule. Wir haben es alle gesehen, Sie alle sehen es täglich. Es ist das untere Ende der Skala, aber es ist dieselbe Skala. Das glauben Sie nicht? Fragen Sie einen Süchtigen aus Ihrem Bekanntenkreis. Da haben Sie keinen? Wetten, daß. Fettsucht, Magersucht, Tablettensucht, Spielsucht, Sex- und Beziehungssucht, Arbeitssucht, Nikotinsucht und der allgegenwärtige Alkoholismus sind Süchte, deren Auswirkungen wir nicht nur im Stadtpark oder der Unterführung beobachten können, als voyeuristische Zaungäste auf der Schattenseite des Lebens. Sie sind mitten unter uns, wir sehen sie am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft, in der Familie, oft genug auch beim morgendlichen Blick in den Spiegel. Sucht ist im Kopf, und sie bleibt auch dort, selbst wenn wir noch so lange trocken oder clean sind, selbst wenn der Körper sich scheinbar vollständig erholt hat: Sucht ist für immer. Süchtigsein gehört zum Menschsein, wie Kranksein allgemein. Die Tatsache, daß nicht jeder Mensch süchtig wird, hat so viel Beweiskraft wie die Tatsache, daß nicht jeder Mensch jegliche Krankheit bekommt. Ein starker Wille schützt vor Sucht so sicher wie Brokkoli vor Brustkrebs.

 

Wenn der Schweizer Regisseur, Dramatiker und Drehbuchautor Urs Odermatt dreizehn Jahre nach Erscheinen des Romans jetzt Trainspotting als Schweizer Erstaufführung im Studio des Theaters St.Gallen zeigt, geht es nicht um den zoologischen Blick auf eine soziale Randgruppe. Auch nicht um eine nochmalige theatralische Verständigung über das, was wir alle schon wissen: Drogen sind lebensgefährlich. Es geht auch nicht um die Inszenierung altbekannter Fixer-Tableaus mit den üblichen Requisiten: Löffel, Kerze, Spritzbesteck. Auch Heilerde und Randensaft bleiben außen vor, die im Theater gerne Blut und Durchfall abgeben. Im fast leeren Raum des Studios, den Rainer Sinell gestaltet, wird das Publikum zwar von den Galerieplätzen herabschauen wie auf ein Raubtiergehege. Doch was es dort sieht, ist keine fremde Spezies, Homo addictus. Es sind Schauspieler, Menschen, die nicht mit illegalen Substanzen umgehen, sondern mit ihrem ureigenen Spielmaterial, der Sprache. Denn jenseits alles naturalistischen Voyeurismus überzeugt Trainspotting durch die Fähigkeit des Autors, den rastlosen Zustand des Gehirns im Sog der Sucht in eine treibende, rhythmische, suggestive Sprache zu bringen, die scheinbar dem Straßenslang abgelauscht, in Wirklichkeit aber hochartifiziell ist. Was daran überrumpelt, ist weniger die geschilderte Situation als die Schilderung selbst, die gewaltigen, skurrilen, ekelhaften, traurigen und komischen Wortschwalle, in denen Welshs Figuren ihren Alltag beschreiben – auch wenn dieser Alltag dem durchschnittlichen Theaterbesucher noch so fern liegt, so zieht ihn die Sprache der Süchtigen doch immer wieder in ihren Bann, weil sie zurückführt an ihren Ursprung, zu dem schwarzen Loch im Kopf, in dem alle ungestillten Bedürfnisse hausen und nach Ersatzbefriedigung schreien: Der Ort der Sehn-Sucht, den wir alle in uns tragen. Um zu diesem Ort zu gelangen, braucht es keine Requisiten. Die Schauspieler führen uns dorthin auf der Überholspur der Sprache, im selbstmörderischen Tempo der Satzkaskaden, vorbei an der Schreckensgalerie unserer inneren Bilder, die im Rhythmus der Texte an uns herandonnern und wieder verschwinden wie Hochgeschwindigkeitszüge in abgelegener Landschaft: Trainspotting.

Jan Demuth

Schwarze Löcher im Kopf

Terzett 4/05, Theater St. Gallen

 

*

 

Mark

Ich frier’ mir den Arsch ab, aber mit jeder Bewegung wird’s noch schlimmer. Der Trick is’, sich möglichst wenig zu rühren. Das is’ einfacher, als sich übern Bod’n schlepp’n. Da is’ noch jemand im Zimmer. Spud, glaub’ ich. Spud, Spud ... Keine Antwort. Is’ doch verflucht kalt, Mann. Spud, falls er es wirklich is’, sagt immer noch nix. Mag sein, daß er hops is’, obwohl auch unwahrscheinlich ‒ seine Augen sind irgendwie offen ... Aber auch das sagt gar nix.

 

Spud

Fuck! Wo bin ich, verdammt? Wo denn? Ich wach in’m fremd’n Bett auf, in’m fremd’n Zimmer. Ich hab’ mich total versaut. Ich hab’ ins Bett gepißt, ins Bett gekotzt, ins Bett geschiss’n. Ich rutsch’ vom Bett runter, heb’ die Decke rauf und schau drunter. Das Bett ist total versaut. Die kleinen rosanen Nelk’n auf weiß’m Grund ertrink’n i’nem giftig’n, bräunlichen Cocktail. Ich muß die Brock’n, als wär’s ’ne Tüte Pommes, im Lak’n aufsammeln. Das verschnüre ich dann im Bettbezug zusammen. Ich paß schon auf, daß nix durchsickert und laß das ganze unterm Bett verschwind’n. Dann seh ich mich zufällig im Spiegel. Fick die Wunde, Jesus! Ich verdrück’ mich ins Bad, um mir die ganze Scheiße wegzudusch’n. Das Bad is’ irgendwie ‒ irgendwie verdammt vornehm. Aber wen kenn’ ich überhaupt mit so ’nem vornehmen Bad? Nein, nein... , ja ‒ Gail Houston! Ich befinde mich in der Residenz von Gail Houstons Mutter. Wie bin ich denn hierhergekommen? Wer hat mich hierhergebracht? Wer hat mich ausgezog’n? Ab der Kneipe wußte ich von nix mehr. Wo Gail Houston ins Spiel gekommen war, war mir total schleierhaft. Gail und ich war’n schon seit sechs Woch’n zusammen, bloß gepennt mit’nander hatt’n wir nich’. Sie wollte nicht, daß unsre Beziehung von vorne rein „auf ’ne physische Basis gestellt“ wird, „denn so ein Anfang würde sie für immer prägen“ ‒ das hatte sie natürlich in Cosmopolitan geles’n! Und sechs Woch’n später hab’ ich Eier wie Wassermelonen. Wahrscheinlich fand sich ’ne gute Ladung Sahne unter all der Scheiße-Pisse-Kotze. Wie auch immer, ich will mich grad wieder ins Bett verdrück’n un’ noch ’ne Runde knack’n, als plötzlich die Tür aufgeht und Gail in die Bude marschiert...

Alison

Gott, das ist wieder so ’n Abend. Mir ist es lieber, wenn’s voll ist. Wenn’s tot ist, steht die Zeit still. Andy sitzt blöde da und liest die Evening News. Graham is’ in der Küche und kocht, ohne Hoffnung, daß gegessen wird. Und ich mache null Trinkgeld.

 

’n paar Typen kommen in die leere Kneipe, breit wie Brauereigäule. „Was kann ich Ihnen bringen?“, frag’ ich sie höflich. „Zwei Flaschen von der besten Pisse. Und ’nen Tisch für vier Mann.“ Den Ton kenn’ ich. Obere Mittelschicht. Wichsen in Kleenex. Die Stadt is’ voll von diesen Typen. Ich lächle sie an. Ich muß mir meine Vorurteile abgewöhnen.

 

Einer glotzt mich an und lallt: „Die würd’ ich nich’ von der Bettkante stoßen.“ Arschloch! Ich koche vor Wut. Tue so, als hätt’ ich die Bemerkung nicht gehört. Ich kann es mir nicht leisten, den Job zu verlieren. „Alles in Ordnung, Puppe?“, sabbert ein dunkelhaariger, dürrer Dünnpfiff. „Sag’ das mal deinem Gesicht!“ Muß ich das haben? Muß ich nicht! „Kannste diese verdammten Arschlöcher nich’ rausschmeißen?“, schreie ich Graham an. „Geschäft is’ Geschäft, Kind. Der Kunde hat immer recht, und wenn er ’n Wichser ist.“ Selber Wichser.

 

Ich hab’ heftig meine Tage und fühle mich wie ausgeschabt. Auf dem Klo wechsle ich den Tampon und wickle den gebrauchten in Klopapier. Diese reichen Spargelspitzenfresser haben unsere Schickimickisuppe bestellt: Tomate und Orange. Als Graham nicht guckt, versenk’ ich den blutigen Tampon wie ’nen Teebeutel in ’nem Teller und drücke den schmierigen Inhalt mit ’ner Gabel aus. Ein paar Fäden schwarzer Gebärmutterschleim schwimmen in der Suppe, doch einmal kräftig gerührt, und schon lösen sie sich auf. Leg dich nie mit ’ner Kellnerin an! Ich sorg’ dafür, daß der dürre Wichser die Suppe mit Schuß bekommt.

 

„Mehr Wein!“, dröhnt mich der fette, blonde Sack an. ‚Service, Monsieur‘, denke ich und pinkle in ’ne Saucenschüssel. Bei meinen Tagen habe ich oft Blasenentzündung. Mein Urin ist schal und trüb. Typisch bei ’ner Harnröhreninfektion. Ich verdünne den Primitivo mit meinem Saft und fülle das ganze in eine schicke Karaffe. Sieht etwas fischig aus, aber die Penner sind zu viel blau um das zu merken.

 

Es ist nicht leicht, auf unserem winzigen Kneipenklo auf ein Stück Zeitung zu scheißen. Ich drück’ ’ne kleine weiche Wurst ab, rühre sie mit etwas Sahne im Mixer auf und mische alles unter die heiße Schokolade, die ich über das Vanilleeis gieße. Die Penner schlemmen und schmatzen. „Der Kunde hat immer recht, und wenn er ’n Wichser ist.“

Bearbeitung: Urs Odermatt

 

*

 

Bei der Uraufführung von Irvine Welshs Theaterstück Trainspotting in Glasgow sind die Besucher reihenweise in Ohnmacht gefallen, so nah wurde ihnen Höhepunkte und Elend der vier Junkies vorgeführt. Ein Stück zum Thema Heroinsucht, das sich des Phänomens nicht auf tranig sozialarbeiterische Weise nähert, sondern Highs und Downs, Flashes und Turkies darstellt, wie sie sind. Faszinierend und witzig einerseits, bestürzend andererseits. Ein Stück, das auch mit seiner hochliterarischen Sprache und Präzision besticht. Trainspotting lenkt den Blick allerdings nicht nur auf die Drogenszene im engeren Sinn, sondern zeigt auch die Gesellschaft, die Drogensucht eigentlich produziert. Und diese Gesellschaft kommt auch nicht gut weg in diesem sensationellen Stück. Trainspotting ist kein Drogenstück. Es ist ein Stück über Sucht.

 

Trainspotting zeigt einen Zustand, es gibt keine Antworten, es verurteilt und wertet nicht. Es ist eine Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen, persönlichen, politischen Ursachen der Sucht. Heroin ist die Droge Mark Rentons, der Erzählerfigur des Stücks. Heroin macht für Mark Renton alles andere gegenstandslos. „Wenn du an der Nadel hängst, hast du nur eine Sorge ‒ wo kriegst du Stoff her. Aber wenn du davon runter bist, mußt du dir plötzlich über allen möglichen Scheiß Gedanken machen.“ Für Mark Renton ist Heroin eine Notbremse. Es ermöglicht ihm, sich einer Gesellschaft zu entziehen, die Individuen fördert, die immer besser, schneller und reibungsloser funktionieren müssen. Einer Gesellschaft, die selbstbestimmtes Leben auf dem Altar des Konsums und der Warenwelt geopfert hat.

 

Das Thema des Stücks ist nicht die Heroinabhängigkeit als extremste Form der Sucht, sondern die Sucht an sich. Es ist für eine Gesellschaft einfacher, Heroinabhängige auszugrenzen und zu stigmatisieren, als sich mit den eigenen Süchten und deren Ursachen auseinanderzusetzen. Trainspotting ist ein Spitzenstück. Es zeigt die extremsten Formen von Sucht, ohne den Blick von gesellschaftlich geduldeten Süchten und legalisierten Drogen abzulenken.

Theater Phönix, Linz

Trainspotting von Irvine Welsh