Zu einer der wichtigsten Inszenierungen des Neuen Theaters hätte das Max-Frisch-Stück Andorra werden können. Statt dessen wurde seine Première Freitag nacht zum Reinfall. Nicht wegen seiner brisanten Aktualität, seines entlarvenden Blicks auf Intoleranz, Fremdenhaß und mörderische Heuchelei erregte die erste Theaterinszenierung des Schweizer Regisseurs Urs Odermatt Aufsehen, sondern wegen seiner vier Stunden in die Länge gezogenen, immer wieder in Plattheiten und vordergründige Spektakel versinkenden Umsetzung. Am Schluß hatte das erschöpfte Publikum kaum noch Kraft, die teilweise exzellenten Schauspieler zu belohnen. Mit Buhrufen dagegen machte es seinem Ärger beim Auftritt des Regisseurs Luft.
Frisch schildert das Verhalten der Einwohner Andorras zum jungen Andri, der als bedrohtes Judenkind vom früher hochgeachteten Lehrer aus benachbartem Feindesland gerettet worden sein soll. Angst und Haß vor dessen behaupteten Anderssein grenzen den jungen Mann immer stärker aus, machen ihn zur Unperson, zum Bösewicht par excellance, der mit den Leichen im Keller der Andoraner beladen und schließlich der neuen Macht – nachbarlichen Feindestruppen, die Andorra besetzen – als Opfer zum Fraß vorgeworfen wird. Die spät vom Lehrer herausgeschrieene Wahrheit, daß Andri kein Jude, sondern sein unehelicher Sohn ist, will keiner der braven Bürger wissen. Selbst Andri nicht, der ihm suggerierte „Jud-Eigenschaften“ – Raffgier, Feigheit, Geilheit – immer häufiger an sich zu entdecken glaubt und schließlich wie ein in die Enge getriebenes Tier aggressiv-trotzig diese Identität verteidigt.
Gleichmäßig auf der Spielfläche verteilt waren die vier Hauptschauplätze des Dramas: Kneipe, Kirche, Wohnzimmer und Tischlerei. Mit Scheinwerferspots wurden die jeweils agierenden Schauspieler ins rechte Licht genickt. Eine interessante Lösung. Auch einzelne Spielszenen, konnten an bewährtes NT-Niveau anknüpfe. Dies war vor allem das Verdienst der Schauspieler: Siegfried Voß, der in anderen Stücken mit seinem imposanten Auftreten oft Gegenspieler an den Rand zu drücken droht, begeisterte als wissender aber verängstigter, vom Schnaps zerstörter Lehrer. In sich zusammengesunken, im schlottrigen Anzug, schlurfte er betrunken-zittrig über die Bühne. Ein gebrochener Mann, der trotzdem immer wieder verzweifelten Mut zeigt. Peer-Uwe Teska als roher Soldat spuckte große Töne, machte Andris Geliebter großkotzig-grob den Hof, zeigte aber zugleich zynisch-eiskalte Berechnung. Am Ende ist er eine verweichlichte, lächerliche Marionette in den Händen der Besatzer. Doch die entlarvende Lächerlichkeit wird in Odermatts Inszenierung zur unpassenden Farce – vor allem in den Besatzerszenen. Krassestes Beispiel: Der aufbegehrende Lehrer drückt dem Armeechef eine Handgranate in die Hand, der springt wie vom Affen gebissen herum, gibt sie an den nächsten weiter. So wandert das Geschoß durch die auf den Boden gezwungenen Andoraner, um schließlich unter den Publikumssitzen zu explodieren. Gleich dreimal mußten die Zuschauer diese Posse aushalten. Auch der von Andreas Range gespielte Pater gewann durch ähnlich vordergründigen Schnickschnack wenig.
Unter solchen Übertreibungen litt manchmal auch die im Ganzen ordentliche Darstellung des Andri durch Henning Peker. Seine Todesangst in der Russisch-Roulette-Szene mit dem Soldaten war überzeugend, fesselte die Zuschauer. In anderen Szenen war seine innere Zerrissenheit, seine Angst zu verkrampft dargestellt. Nicht nur bei ihm schienen ab und an Zweifel an der Aufführung durchzubrechen. Kleine Kabinettstückchen lieferten Axel Reinshagen als betrunkener, zynischer Tischler, Klaus-Rudolf Weber als verbitterter, haßböser Amtsarzt (dagegen trug sein unendliches, im Showmasterstil vorgetragenes Rechtfertigungsplädoyer zur allgemeinen Langeweile bei) und Marie-Anne Fliegel als grazile, klardenkende und trotz aller Feinheit wunderbar natürlich agierende Senora. Doch die schauspielerischen und szenischen Glanzpunkte reichten nicht aus, um die Fehler der zerrissenen und streckenweise langatmigen Inszenierung zu vertuschen.
Frank Czerwonn
Mammut-„Andorra“ ermüdete das Publikum
Mitteldeutsche Zeitung, Halle, 18. Oktober 1993
An Andorra reizt mich vor allem, daß es ein archetypisches Stück über ein klassisches Thema ist, nämlich das der Ausgrenzung des anderen. Dieses Thema ist so klassisch wie Liebe, Haß und Eifersucht und so konkret wie Hunger, Durst und Sinnlichkeit. Irgend jemand ist immer anders, irgendeiner muß immer raus. Bei den Juden ist es seltener geworden, dafür gibt’s jetzt: Ausländer raus, Neger raus, Türken raus, Fidschis raus, Schwule raus, Frauen raus, Hunde raus, Schauspieler raus! Das ist nur einen Augenblick lang lustig, dann beginnt der Ernst.
Urs Odermatt
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Weihrauch, ein brennendes Kreuz, explodierende Handgranaten und Maschinengewehrsalven – Luft zum Atmen. Kommentar von Regisseur Urs Odermatt (38): „Auch die Zuschauer sollen sich quälen.“ Und wie sie sich quälten! Den ganzen Freitagabend. Vier Stunden und zehn Minuten bei der Premiere von Max Frischs Andorra im Neuen Theater.
Inhalt: Der Umgang der Andorraner mit Andri (Henning Peker), der von ihnen für einen Juden gehalten wird...
Die Regieumsetzung dieses brisanten Themas: langatmige Dialoge mit vielen Pausen, überflüssige Action, brutale Soldatenszenen und vordergründige Sexspielchen.
Bemerkenswert die Schauspielerleistungen: Henning Peker als Außenseiter Andri, Siegfried Voß als betrunkener Lehrer und leidender Vater von Andri. Ebenfalls sehr gut: Peer-Uwe Teska als dümmlicher Macho-Soldat Peider.
Trotzdem ist NT-Vize Dietmar Rahnefeld sauer: „Ich hab’ mir die Premiere nicht angeschaut, ich habe schon die Proben gesehen. Das Stück ist eine Zumutung für mich. Da laufen uns ja die Zuschauer weg.“ Sein Chef Peter Sodann traf eine salomonische Entscheidung: „Wir spielen für das Publikum, soll das entscheiden. Wenn es dem nicht gefällt, wird Andorra abgesetzt.“ Die Premierengäste haben schon abgestimmt: Beifall für die Schauspieler, Buhrufe für Gastregisseur Odermatt.
Steffi Theuring
Buh, Herr Odermatt!
Bild-Zeitung, Halle, 18. Oktober 1995