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Krimikonsumenten sind auf das Privatleben ihrer Fernsehkommissare angewiesen. Ein kleiner Streit mit der Ehefrau, das schlechte Zeugnis der pubertierenden Tochter oder Dauerärger mit dem Waschmaschinen-Kundendienst: Aus diesem Stoff sind die Träume vom Polizisten als Menschen gemacht. Der Streiter für das Gute in einer bösen Welt scheitert komisch an Alltagstücken oder tragisch an der ihn einholenden eigenen Vergangenheit. Anspruchsvollere Serienproduktionen wie der Tatort oder Polizeiruf 110 versorgen ihr Publikum ausschweifend mit dem Leben jenseits des Büroschreibtischs. Ein beliebter dramaturgischer Trick ist es, das Private mit dem Beruflichen schicksalhaft zu vermengen: Der neutrale Polizist wird zum befangenen Ermittler in eigener Sache – und damit nicht selten zum Mittäter. Kommissar Schimanski zum Beispiel hat das seinen Fans oft genug vorgemacht und mauserte sich durch sein privates Engagement zum wohl am häufigsten vom Dienst suspendierten Fernsehpolizisten Deutschlands.

 

Auch die letzten Folge des Polizeiruf 110 bemühte oberflächlich dieses Muster. Kriminalassistent Heiner Speth gab in Kleine Dealer, große Träume zwar keinen Schimanski ab. Dafür ist er viel zu schüchtern und höflich. Aber als er seinen Freund Atze bei einem größeren Drogengeschäft erwischte, vergaß er dann doch für wenige Minuten die Dienstordnung. Und die reichten Atze zur Flucht. Die Verwicklungen der nächsten neunzig Fernsehminuten waren absehbar: daß Speth sich immer weiter in die mafiosen Drogendeals verwickelte, daß seine hehren Motive bei der grantigen Chefin auf keinerlei Verständnis stießen. Speths Vergangenheit, seine an Heroin gestorbene Schwester, die mit Atze befreundet gewesen war, legte die Rebellion gegen die Dienstvorschrift nahe.

 

Jürgen Vogel, einer der jungen Stars des deutschen Kinos, spielt Atze Pöhlein, den Geschäftsführer einer heruntergekommenen Strip-Diskothek. Die kleinstädtische Schnoddrigkeit Vogels, die die Widrigkeiten des Lebens einfach ignoriert, machte ihn zum rührenden Halbstarken: eine große Klappe, hinter der ein Herz steckt. Während Angelica Domröse als Kommissarin Bilewski einen konsequent verbiesterten Eindruck hinterließ und nette Worte nur für ihren kratzlustigen Kater Alexander übrig hatte, gelang Raacke eine Darbietung zerbrechlicher Souveränität.

 

„Ich kann Ihnen wirklich nicht mehr helfen“, raunzt Vera Bilewski ihn am Ende des Films an, und das hätte man schon eine Stunde vorher während der nervösen Schokoladeneis-Akrobatik in einem Café vermutet. Eingeschüchtert von den beiden jungen Frauen ihm gegenüber, kämpft der Ermittler Speth, die Pistole im Schulterhalfter, so herrlich hilflos mit seinem Eisbecher, daß er allein deshalb schon vom Dienst hätte suspendiert werden müssen. Und schließlich kann Speth die Moral-Medaille einheimsen. Auch wenn ihm nicht zu helfen ist, gelingt es ihm zumindest bei anderen: Das Geld aus einem fingierten Drogengeschäft geht samt Tatverdächtigen verloren. Speth weiß es für einen Heroinentzug gut angelegt.

 

Der Regisseur Urs Odermatt vergaß schnell den Realismus, den seine Autoren Klaus-Peter Wolf und Friedhelm Zündel ihm ins Drehbuch geschrieben hatten. Er erzählte in seinem Film lieber ein Märchen, in dem am Ende doch das Gute die Oberhand behielt. Es war nur folgerichtig, daß er für die Nebenrollen ein Panoptikum schräger Vögel zusammensuchte, um den wirklichkeitsgetreuen Hauptfiguren eine grotesk gemusterte Tapete als Hintergrund zu bieten. Die Chemiker der Spurensicherung waren allesamt Freaks, Atzes Mutter trat als Karikatur einer deutschen Hausfrau mit karierter Schürze und Fünfziger-Jahre-Brille auf, die Gesichter von Pförtnern und Streifenpolizisten verwandelte der Kameramann Fritz Moser mit Weitwinkel und allzu ruhigen Großaufnahmen zu irrealen Spießerstilleben. Derart entrückt, zögerte der Zuschauer nicht, die Wendung zum leicht melancholischen Happy-End mitzuvollziehen. Fernsehmärchen, das sind die großen Träume, die eben doch wahr werden.

Kolja Mensing

Nach Eisbecher verreist – Kleine Dealer, große Träume

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. Juni 1996

 

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Urs Odermatt, 41, der Schweizer Regisseur dieser bitteren Satire über die Welt der Dealer und Drogen, war Photograph und hat bei dem polnischen Kinogenie Krzysztof Kieślowski studiert. Das merkt man seinem Film an: Immer wieder blicken die Darsteller dem Zuschauer durch die Kamera (Fritz Moser) direkt ins Gesicht, für epische Distanzierung läßt Odermatt keinen Raum. Die Geschichte von Atze (Jürgen Vogel), der um seine drogenabhängige Freundin (Nadja Uhl) kämpft, wird immer wieder ironisch durchbrochen. So erscheint Kommissarin Bilewski (Angelica Domröse), die gegen mörderische Dealer ermittelt, als machtbewußte Domina: Wie das Phantom aus James Bond streichelt sie dauernd ihren fiesen Kater. Dominic Raacke – er spielt ihren Polizeikollegen – hetzt derangiert durch die Gegend. Soviel boshafte Komik war selten im Krimigenre.

Der Spiegel, Hamburg, 24/1996

 

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Der Schweizer Regisseur Urs Odermatt inszenierte diesen Film, der sich mit seiner gelungenen Mischung aus Ernsthaftigkeit und intelligentem Witz wohltuend vom Krimireihen-Einerlei abhebt. Während sich zwischen der schwangeren Drogensüchtigen Bibi (Nadja Uhl), ihrem Freund Atze  (Jürgen Vogel) und dem Polizisten Speth (Dominic Raacke) ein glaubwürdiges Drama um Sucht, Liebe und Vergangenheitsbewältigung abspielt, sind die zahlreichen Nebenfiguren, vom Polizeitechniker bis zum Dealer, als Karikaturen angelegt, die mit ihren (Kurz-) Auftritten das Krimi-Genre parodieren.

Hervorragende Darsteller und eine einfallsreiche Regie ergeben einen „Polizeiruf 110“ von besonderer Qualität

Der Stern, Hamburg, 13.Juni 1996

 

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„Ich schaff’ das!“, redet sich das minderjährige Mädchen ein. „Ich bin nicht süchtig!“ Dabei hängt sie längst am Heroin, schwanger ist sie auch noch – verzweifelte Situation, wie sie im deutschen Drogensumpf jeden Tag viele erleben. In diesem harten Krimi wurde das Disco- und Drogen-Milieu endlich einmal wieder mit der nötigen Schonungslosigkeit ausgeleuchtet: Hilflose junge Leute strampeln im Spinnennetz von Sucht und Mafia, überforderte Polizisten und machtlose Ärzte bieten dem Bösen nur eine schwache Barriere. Erschütternde Aktualität, packende Dramatik, erstklassige Akteure (Angelika Domröse, Jürgen Vogel) – dieser Film konnte niemanden kaltlassen!

Josef Nyáry

Im Spinnennetz von Sucht und Mafia

Die Welt, Bonn, 17. Juni 1996

 

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Das Polizistenwesen, so wird uns immer mal per Krimi vorgeführt, ist ein schlamperter Verein – eine ungemütliche Vorstellung, die jedoch vielfach variierbare Möglichkeiten fürs komische Fach eröffnet. Urs Odermatts Polizeiruf 110 greift sie auf und spitzt sie bis zur Überdrehung zu. Sein ermittelnder Beamter, mit „Chinatown“-würdig bepflasterter Nase, erkundet fleißig die Geheimnisse des Vorwärts- und des Rückwärtsganges seines Autos. Ein Kollege, der Mohrenkopfnascher (köstlich: André Jung), wirkt nicht eben helle, und als ein Polizist das Messer, das eben in der Brust einer Leiche gesteckt hat, als „vermutliche“ Tatwaffe erkennt, sind die Grenzen des Scharfsinns deutlich gezogen. An einem bedenklichen Minimalwert ist auch der IQ der Verbrecher zu vermuten, was sie nicht minder gefährlich macht. In eigenwilliger Kombination von slapstickartigen Szenen und hintergründiger Handlung dreht sich der Fall um einen kleinen Heroindeal. Discobetreiber Atze klaut den Stoff, um vom Erlös eine Entziehungskur für seine Freundin zu finanzieren. Sein Freund, der Inspektor, deckt ihn trotz Gewissenskonflikten. Die ironisch gebrochene Geschichte junger Menschen im Drogensog unterläuft gängige (Bild-)Muster und hält trotzdem einen Krimi-Abend lang.

Morpheus

Mohrenköpfe

Die Weltwoche, Zürich, 20. Juni 1996

 

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Es ist Nacht, und eine Nackte läuft hilflos und verwirrt auf einer Landstraße. Bibi, das nackte Mädchen (gespielt von Nadja Uhl), ist heroinsüchtig. Ihr Freund Atze (Jürgen Vogel) will sie von dem Stoff wegbringen. Bibi ist nämlich, das erfahren wir später, schwanger von Atze, und er will mit ihr eine Familie gründen. Durch Zufall entdeckt Atze ein Kilogramm Heroin bei jenem Kerl, der Bibi abhängig hält und mit den Drogen versorgt. Der Stoff kommt Atze gelegen, denn er braucht viel Geld für Bibis Entzug in der Schweiz, und dieses Geld will er besorgen, indem er das Kilo an zwei Drogendealer verkauft. Das ist der Anfang von Kleine Dealer, große Träume, einer Polizeiruf-110-Folge des Süddeutschen Rundfunks, in der es ziemlich lange keinen Toten gibt und doch von Beginn an sehr viel Spannendes passiert.

 

Irgendwie hat die Polizei von der Übergabe erfahren, und als sie die Dealer in einer Tiefgarage festnehmen will, wird Kommissarin Vera Bilewski (Angelica Domröse) angeschossen. Interessanter noch ist, daß ihr Assistent Heiner Speth (Dominic Raacke) bei der Verfolgung plötzlich einen alten Bekannten erkennt. Das ist Atze, und Speth läßt ihn zögernd laufen. Später wird man dann erfahren, daß Speths Schwester auch mal die Freundin von Atze war, daß auch sie süchtig war und daß sie am Stoff zugrunde ging. Speth will irgendwie helfen, auch wenn er selbst dabei stürzt, es das Ende seiner Polizistenkarriere bedeuten kann. Regisseur Urs Odermatt läßt theatralisch, temporeich und witzig spielen, und die Autoren Klaus Peter Wolf und Friedhelm Zündel drehen die Beziehungen von Guten und Bösen so ineinander, daß sich die Grenzen zwischen Polizei und Opfer und Täter immer wieder auflösen.

schul.

Der Polizist, dein Ex-Freund & Komplice

Süddeutsche Zeitung, München, 15. Juni 1996

 

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Ein verwirrtes Mädchen rennt splitternackt durch die Nacht, dazu läuft schrille Musik von den „Cranberries“. Schon nach der Anfangsszene ist klar: dieser Polizeiruf 110 hat fest die junge Zielgruppe im Blickwinkel. Ungewöhnlicher Schnitt, dunkles Licht, neue Gesichter (Entdeckung: Nadja Uhl). Regisseur Urs Odermatt gerät die Geschichte um Liebe und Mord im Drogenmilieu einen Hauch zu kunstvoll (Gewissenskonflikt eines Polizisten). In Nuancen aber auch hintergründig komisch: etwa, wenn die Domröse, einstiger Defa-Star, als rüde Kommissarin das ungeschickte Verhalten eines Kollegen kommentiert: „Sie sind wohl aus dem Osten?“

Birgit Mertin

ARD buhlt um junge Leute – „Kleine Dealer, große Träume“

Hörzu, Hamburg, 7. Juni 1996

 

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Der Videotechniker der Polizei stopft sich bei der Aufzeichnung des Verbrechens gleich nebenan reihenweise Mohrenköpfe in den Mund, und der Kripobeamte schmiert bei der Beschattung eine Bratwurst mitsamt Senf an die Schaufensterscheiben. Doch auch die Bösen sind keinen Deut schlauer und können kaum bis (..., Druckfehler im MM) des Süddeutschen Rundfunks (SDR) geriet zum Tummelplatz der Karikaturen und war ein höchst witziges Satirefest für die Darsteller sämtlicher Nebenrollen. Die Geschichte des Krimis war das genaue Gegenteil: Es ging um das Schicksal einer minderjährigen Drogenabhängigen und um einen Polizisten, der mit seinen Hilfsabsichten den rechten Weg verläßt in der Hoffnung, seine eigene Vergangenheit bewältigen zu können. Aus diesem krassen Gegensatz bezog der Film seinen Reiz. Das war alles andere als langweilig, war Krimi und Krimi-Parodie zugleich. Die hochkarätige Besetzung mit Dominic Raake, Jürgen Vogel und Angelica Domröse taten ein übriges, um die Polizeiruf-110-Folge Kleine Dealer, große Träume zum seltenen Fernsehgenuß für die Zuschauer werden zu lassen.

bjz

Mannheimer Morgen, 18. Juni 1996

 

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Bibi hängt an der Nadel, beschließt aber, ihr Baby trotzdem zu kriegen. Ihr Freund Atze will das Geld für einen sanften Entzug besorgen. Also klaut er einem Bekannten ein Kilo Stoff, um ihn selber weiter zu verscherbeln – nur leider kommt bei der Übergabe die Polizei dazwischen. Polizist Heiner, seine am Rauschgift zugrunde gegangene Schwester vor Augen, gibt Bibi und Atze eine letzte Chance und katapultiert sich selbst somit ins Aus.

 

Eine unausweichlich erscheinende Entwicklung, obwohl die Geschichte mitunter abrupt von Szene zu Szene sprang, so, als würde der Zuschauer eher unbeabsichtigt in das Geschehen hineingezogen. Bilder und Musik entwickelten Atemlosigkeit und nervöse Unruhe, bauten eine innere Spannung auf, die sich immer wieder in witzigen Momenten und skurrilen Details entlud.

 

Dieser Polizeiruf überzeugte durch hervorragende Schauspieler wie Angelica Domröse, Jürgen Vogel und Dominique Raacke und durch seine ungewohnte Perspektive: Mit Junkies, minderjährigen Müttern und kleinen Dealern wurde eine Randgruppe zum Mittelpunkt, die „Normalbürger“ dagegen an die Peripherie getrieben. Dem menschlichen Gesicht der sonstigen Außenseiter standen Fratzen gegenüber: ein sabbernder Arzt, ein vertrockneter Bürokrat, rülpsende Verbrechervisagen. Karikaturen zweifellos, die das Unverstellte und Verletzliche der anderen, das Existentielle ihrer Probleme unterstrichen.

Antje Enigk

Atemlos

Leipziger Volkszeitung, 18. Juni 1996

 

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Ja, was ist denn das?! Ein Kuckucksei in der biederen Reihe Polizeiruf 110? Ach was, ein Kleinod! Ein Leckerbissen, der den Fan von Krimi-Grotesken an Peter Patzaks absurde Wiener Geschichten um Kottan erinnert.

 

Die Autoren ließen ihrer verdrehten Phantasie freien Lauf und entwickelten in der friedlichen Heilbronner Provinz ein bittersüßes Räuber-und-Gendarm-Spiel mit verwischten Fronten. Urs Odermatt inszenierte Kleine Dealer, große Träume mit bizarrer Situationskomik und guten Darstellern (Angelica Domröse, Dominic Raacke, Rosemarie Fendel, Nadja Uhl).

 

Kommissare, Polizisten und Ganoven führte der Film als total schräge Typen vor, Opfer und Betroffene der Rauschgiftstory wurden in ihrem Zorn, ihrer Angst und Abhängigkeit beklemmend realistisch gezeigt. Exquisit.

kdh

Grotesker Leckerbissen

Augsburger Allgemeine, 18.Juni 1996

 

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Eine nackte junge Frau rennt nachts eine Landstraße entlang. Ein Auto nimmt die Verfolgung auf: Das Mädchen heißt Bibi (Nadja Uhl) und ist heroinabhängig, der Mann im Auto ist ihr Freund Atze (Jürgen Vogel). Er will Bibi helfen, „clean“ zu werden. Regisseur Urs Odermatt spricht in seinem Polizeiruf 110 mit dem Titel Kleine Dealer, große Träume von der ersten Sekunde an eine äußerst drastische Bildersprache.

 

Bibi und Atze wollen eine Familie gründen und ein neues Leben anfangen. Als Atze bei dem Dealer, der seine Freundin regelmäßig mit Stoff versorgt, ein Kilo Heroin findet, kommt ihm das gerade recht: Er will das Päckchen verkaufen, denn das Geld könnte er für den Start in eine bessere Zukunft gut gebrauchen. Doch es läuft nicht wie geplant, statt dessen tritt die Polizei auf den Plan. Die schnoddrige Kommissarin (herrlich: Angelica Domröse) verfolgt die richtige Fährte, während ihr Assistent Heiner Speth (Dominic Raacke) eifrig bemüht ist, die Spuren zu verwischen. Schließlich ist Atze sein bester Freund.

 

Odermatt inszenierte seinen intelligenten Krimi abseits der üblichen Klischees, mit viel Tempo und lockeren Sprüchen. Anstelle durchschaubarer Typen bietet Odermatt echte Charaktere, die sich immer anders als erwartet verhalten. Die Grenzen zwischen Gut und Böse werden mit jeder Minute mehr verwischt, und gerade das macht den Reiz dieses Polizeirufs aus.

Ulrike Gasteiger

Abseits üblicher Klischees

Münchner Merkur, 18. Juni 1996

 

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Heiße Rock-Rhythmen. Eine Nackte rennt nachts über eine Landstraße. So flott fangen neuerdings auch ARD-Krimis an – wenngleich diese Szene eher sinnlich denn sinnig ist und für den Rest der Handlung unbedeutend bleibt. Bei der Flitzerin handelt es sich um die drogensüchtige Bibi (Nadja Uhl). Als sie schwanger wird, klaut ihr Freund Atze (Jürgen Vogel) seinem Freund Richie ein Kilo Heroin, um ihr mit dem Erlös den Entzug in der Schweiz zu finanzieren.

 

Dabei kommt Atze sein Fast-Schwager, Kommissar-Assistent Heiner in die Quere. Heiner deckt Atze, zusammen erleben sie ein paar ausgeflippte Tage – doch da gibt es noch die rücksichtslosen Killer vom Drogensyndikat (darunter Laszlo Kish, der Kommissar vom Schweizer Tatort).

 

Die Story ist tatsächlich so kolportagehaft, wie ihr Inhalt vermuten läßt – aber dennoch auch spannend und witzig. Regisseur Urs Odermatt inszenierte das Ganze bewußt als postmodernes Krimi-Spektakel und verwandelt so den Krimi zum kunterbunten dramaturgischen Spielbrett. Mal Action, dann wieder Kammerspiel, mal Kumpelfilm, Sozialdrama, dann wieder Krimi-Komödie. Da läuft Kriminal-Assistent Speth mit einem Nasenpflaster wie Jack Nicholson in Chinatown herum.

 

Die resolute Kommissarin (Angelica Domröse) schaltet entnervt ab, als im Fernsehen Die Kriminalpolizei rät, an der Seite des Ex-DDR-Stars taucht eine Knallcharge von Polizist „aus Karl-Marx-Stadt“ auf. Das Drogengirl Bibi erweist sich in dem Kabinett schräger Vögel als gefestigster Charakter.

 

Jürgen Vogel spielt wieder einmal seine Glanzrolle des zornigen Wilden, und außerdem gibt es einige pädagogisch wertvolle Hinweise. Sagt Bibi, die Fixerin, zu ihren besoffenen Freunden: „’n Suchtproblem habt ihr wohl nich’?“

 

Die Handlung gerät angesichts dieser Wundertüte aus Spaß, Satire und Sozialbewußtsein aus dem Blickwinkel. Das ist der Krimi, der Umschalten überflüssig macht: jeder findet, was er mag, vom flotten Lifestyle über Satire bis zur abenteuerlichen Lebenshilfe.

Dieter Deul

Starke Besetzung, schwache Geschichte

Berliner Morgenpost, 16. Juni 1996

 

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Ein ziemlich rabiater Seelenschinderkrimi war das Drogenmoralstück Kleine Dealer, große Träume von Klaus-Peter Wolf und Friedhelm Zündel (Regie: Urs Odermatt, in der ARD-Reihe Polizeiruf 110): Die outriert giftelnde Kommissarin Bilewski (Angelica Domröse als ewig beleidigte Leberwurst) muß zusehen, wie ihr Assi Heiner (Dominic Raacke) seinen Freund Atze (Jürgen Vogel) bei einem Drogendiebstahl begünstigt, weil der edle Atze mit dem Erlös die Therapie für seine schwangere Junkiefreundin bezahlen will.

 

Sowas reizt die Drogenbosse bis aufs Blut, und sie legen dem bescheuerten Heiner eine Mordleiche in die Wohnung. Auch Junkie-Mütter aller Art sind im Spiel, ein Drogenarzt wird als sabberndes Ekel denunziert, und ein Hämeblick gilt dem Liebesverhältnis der Kommissarin mit ihrem fremdenhassenden Kater. Kurzum: Ein bekifftes Privatleben behindert allerseits die Beamtenvorstellung von Recht und Ordnung – mit viel Gefühl und wenig Logik.

Ponkie

AZ, München, 18. Juni 1996

 

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Polizeiruf 110 mit Angelica Domröse, Jürgen Vogel, Nadja Uhl. Bei diesen Darstellernamen stutzt man kurz. Sind die Zeiten nicht vorbei, da der Polizeiruf noch als Antwort Ostberlins auf den westdeutschen Tatort galt? In der Tat. Sie sind längst vorbei. Des Rätsels Lösung: Die drei Schauspieler aus den neuen Bundesländern spielen lediglich im Polizeiruf des Süddeutschen Rundfunks Stuttgart Kleine Dealer, große Träume die Hauptrollen. Was gewisse Folgen hat. Denn sie bringen zwangsläufig nicht einmal einen Hauch von Schwäbisch ins Spiel. Aber nicht nur das: Auch die Kulisse ist austauschbar, ist von typischem Stuttgarter Umland im wahrsten Wortsinn meilenweit entfernt. Damit wäre klar: Regisseur Urs Odermatt hat mit Lokalkolorit nichts am Hut, auch wenn die Konzeption dies grundsätzlich vorsieht – genauso wie beim Tatort. Wobei sich der Polizeiruf eher auf den ländlichen Raum, der Tatort auf die Großstadt konzentrieren soll.

 

Odermatts Krimi (...) könnte also überall in der Republik spielen. Überall gibt es Discotheken, Dealer und Drogenabhängige. Denn dieser zweite Polizeiruf, den der Stuttgarter Sender jetzt vorlegt, dreht sich um die Sucht und ihre Opfer. Da müssen auch die Gesetzeshüter in die zweite Reihe. Sie können wenig ausrichten, allenfalls noch die Scherben zusammenkehren. Und der Assistent der Kommissarin, der sich im Milieu auskennt, ist am Ende auch noch der Dumme. Dominic Raacke spielt diesen Assistenten und ist damit diesmal ein weitaus weniger pflichtbesessener Beamter als sein Kommissar Lanz, der unlängst in Der Tourist einen Frauenmörder durch Europa jagte.

 

Jürgen Vogel als sein Freund Atze Pöhlein ist im Polizeiruf kein Unbekannter, aber die große Entdeckung dieses Produktion ist zweifellos Nadja Uhl, die 24jährige Schauspielerin aus Potsdam. Seit Januar 1994 hat sie dort am Hans-Otto-Theater ein Engagement und schon die Viola in Shakespeares Was ihr wollt gegeben. Die Adelheid in Hauptmanns Biberpelz, die Smeraldina in Goldonis Diener zweier Herren und sogar das Gretchen in Goethes Faust gehören zu ihrem Repertoire. Aber einem Millionenpublikum wird sie jetzt erst durch ihre Bibi in diesem Polizeiruf zum Begriff. Bibi ist minderjährig, schwanger und heroinsüchtig. Für das Baby will sie von ihrer Sucht loskommen, doch ohne Therapie kann sie es nicht schaffen.

 

Zitternd, vor Schmerz verkrümmt, mit Schweißperlen auf der Stirn – so sieht man diese verzweifelte junge Frau oft genug in diesem Streifen und wird damit für das ganze erbärmliche Elend der Drogensucht sensibilisiert. Sie ist so fertig, daß sie sich für einen Schuß sogar auf einen Striptease einläßt. Also beileibe keine einfache Rolle, aber Nadja Uhl wirkt nie überfordert. Sie steht immer wieder im Mittelpunkt und kommt mit dieser Situation klar, auch wenn Regisseur Odermatt sie bei seiner Gratwanderung zwischen Provokation und Unterhaltung restlos fordert.

 

Noch eine Randnotiz: Kurz nach der Wende war der Polizeiruf 110 der Ostdeutschen liebster Krimi. Inzwischen hat der Tatort im Osten viele Zuschauer gewonnen, der Polizeiruf aber auch im Westen.

Barbara Waldvogel

„Polizeiruf 110“ aus Stuttgart mit Stars aus dem Osten

Schwäbische Zeitung, Leutkirch, 15. Juni 1996

 

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Er fängt wie ein Tatort an, dieser Polizeiruf 110: Die Kamera richtet sich auf zwei Beine, der Lichtkegel verfolgt ihren Lauf. Beim Höherschwenken wird sichtbar: Sie gehören zu einer jungen Frau. Die ist nackt, und es ist dunkel. Minutenlang hört man sie hecheln, sieht man sie rennen, von der Seite, von vorn. Nahaufnahmen wechseln mit Totalen: mal ihr Gesicht, mal die Gestalt, dann die Straße, eine Allee, weit und breit kein Haus. Manchmal fällt Licht auf die Frau, dann wieder ist sie im Schatten.

 

Schließlich erfaßt die Kamera eine zweite Person; einen jungen Autofahrer. Der schickt hinter seinem Steuer unruhige Blicke über die Straße. Doch beim Zusammentreffen ist schon klar: Bedrohlich wird das nicht. Sie ist fortgelaufen, er ihr nachgefahren. Der Einstieg verblüfft – und paßt.

 

Er führt in die Geschichte, er charakterisiert auch und skizziert das Verhältnis der zwei. Die junge Frau, drogenabhängig und schwanger, labil, zum Ausflippen neigend, will los von der Sucht. Bei Anfällen rennt sie auf und davon. Der junge Mann will ihr helfen: Überwachen, aber nicht kontrollieren, beschützen, aber nicht gängeln. Sein Einfall, wie er das Geld für ihre Therapie beschafft, setzt die Handlung in Gang. Klaus-Peter Wolf und Friedhelm Zündel, die Autoren, geben den Darstellern wenig Text vor, aber Jürgen Vogel und Nadja Uhl haben eine Palette von Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung.

 

Doch nicht nur dank dieser beiden ist dieser Polizeiruf 110 beachtlich. Die Handlung ist plausibel, Regisseur Urs Odermatt erzählt sicher. Und verblüfft – anders läßt sich das bei den sonstigen, aufgemöbelten, auf Deibel komm' raus vergagten Fernsehkrimis nicht sagen - durch erstaunliche Realitätsnähe. Die gilt für die Schauplätze: ein schäbiges Kripobüro, eine miefige Wohnstube, Kleinstadtdisco, Parkhaus. Sie gilt vor allem für Zeichnung und Darstellung der handelnden Personen.

 

Angelica Domröse, zum zweiten Mal als Kommissarin Vera Bilewski tätig (ihr Samstags, wenn Krieg ist vom September 1994 war ein furioser Einstieg in diesen Serienpart), spielt eine Frau von nebenan mit den Eigenheiten einer alternden Berufstätigen in einem harten Job; knapp, präzise, nunanciert. Ihr Kollege Dominic Raacke als Kripobeamter Heiner Speth ist geradewegs so trottelig oder auf Zack wie jeder im richtigen Leben, Rosemarie Fendel und Maria-Anne Fliegel sind zwei Durchschnittsmütter, ein bißchen verhärmt und halbwegs erfolgreich im Bemühen um passables Auftreten. Die Polizei ist so, wie sie nun mal ist; die Dealer sind ihr über. Dafür ist der Arzt alles andere als ein Halbgott der Medizin, sondern nur ein ziemlich dicker, ziemlich mickriger Heilberufler.

 

Kleine Dealer, große Träume kommt aus Schwaben. Leider schwäbelt nur einer im Team. Übrigens auch ein erfreulicher Dutzendtyp.

Brigitte Söhngen

„Kleine Dealer, große Träume“

Rheinische Post, Düsseldorf, 15. Juni 1996

 

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Das Spektakel fängt recht spektakulär an: Ein nacktes Mädchen läuft und läuft und läuft. Dann taucht der Verfolger auf, in einem Auto, und stellt das nackte Mädchen. Danebengetippt! Keine rüde Rauferei beginnt – Bibi ist nämlich Atzes Herzallerliebste, und er ist nur hinter ihr her, weil er sie vor dem bösen Heroin bewahren will. Und wenn sie clean ist, will Atze mit Bibi eine Familie gründen, mit dem Kind, das Bibi unterm Herzen trägt, als dritten im Bunde.

 

Aber selbst ein so fürsorglicher Chaot wie Atze weiß, daß man zur Gründung einer Familie mehr Geld braucht, als er in der Disco verdienen kann. Also will er an Kompagnon Richies Stelle den Deal mit dem Heroin machen und dann mit dem Geld verschwinden. Leider klappt das nicht so ganz, denn der Deal wurde verpfiffen und Atze gerät mit dem Polizisten Heiner Speth aneinander, der früher einmal fast sein Schwager geworden wäre...

 

Das Abenteuer wird zum Chaos, als die Dealer zurückkeilen, Speth neben Richies Leiche erwacht, und die Kommissarin Vera Bilewski gegen den eigenen Kollegen ermitteln muß. Doch der gute Geist, der über deutschen Krimis schwebt, findet sogar jetzt noch eine gute Lösung: für Bibi und für Atze. Wie schön! Und spannend war es übrigens auch.

Otto Kühn

„Polizeifunk 110“

Stuttgarter Nachrichten, 18. Juni 1996

 

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Der Polizeiruf 110 war wieder einmal Spielwiese für filmische Analphabeten. Er machte als Reißer auf, wechselte zur Horror-Picture-Show, kapriolte in die Klamotte, fiel brunnentief in Melodram – und das alles in kunterbuntem Wechsel.

 

Im Reißer-Teil rannte ein Mädchen splitternackt durch einen Wald, klirrte furchtbar viel Glas und schrammten diverse Autos aneinander. Der Horror-Teil bot massenhaft Blessierte auf beiden Seiten: Die Kommissarin hat einen bandagierten Arm, ihr Assistent eine Platzwunde auf der Nase, ein weiterer Bulle Schmisse, linksseitig, die später durch eine rechtsseitige Wunde ergänzt wurden, ein Labor-Mensch zutscht an seinem Herpes, ein Gynäkologe hat einen Mund wie eine Molluske, ein Verbrecher hat ein extrem blutschorfiges Kinn, ein anderer schielt heftig, sein Kumpel reißt böse den Mund mal bis zum Ohr, mal zum Auge hoch, ein Portier kratzt selbstvergessen seinen Hintern. Quer durch die moralische Trennlinie wird gestottert, gestolpert, gefallen, gestochen, gestript, gefixt. Sie alle leben in Heilbronn. Diese bedauernswerte Stadt scheint den höchsten Anteil an Degeneration in Deutschland zu halten.

 

Und die Geschichte? Ja, die Geschichte. Sie ist rührend: Atze liebt die minderjährige, schwangere, drogenabhängige Bibi. Er will sie retten, es ist sein zweiter Versuch. Der erste ging schief, da stürzte sich, bei fast gleicher Konstellation, die Geliebte aus dem Fenster. Um jetzt ganz sicher zu Geld zu kommen für eine Schweizer Entzugs-Klinik, klaut er seinem Disco-Boß Richie ein Kilo Heroin, aber der Verkauf an die Dealer geht schief, weil die Polizei auch da ist, was wiederum sein Glück ist, denn der Assistent Heiner ist der Bruder der toten Geliebten und deckt ihn, bzw. nimmt das Heroin an sich.

 

Er macht sich in Folge mehrerer Dienstvergehen schuldig und benimmt sich auch sonst sehr tölpelhaft. Er betrinkt sich in der Disco des Verdächtigen, stript besoffen, wacht an Richies Schulter auf, der aber, wie peinlich, tot ist mittels Messer in der Brust, welches der Heiner ganz profihaft rauszieht und später wieder reinsteckt. Seine Chefin Vera verbündet sich durch tiefe Blicke mit Atzes Mutter, die übrigens aussieht wie eine weibliche Ausgabe von Honecker und ebenso verklemmt zickig ist. Vera kommt dem Heiner auf die Spur, moralpredigt mit mauzender Katze im Arm, verzeiht großmütig und holt mit ihm und Atze zum letzten Schlag aus. Bei einer erneuten Heroin-Übergabe flieht Atze über eine Strickleiter mit dem Geld, die Dealer werden in ihrem großen Auto per großem Netz gefangen, ein Gangster reißt markig eine Hand samt Handschelle in die Kamera, auf den gekrümmten Fingern steht „FUCK“.

 

Die Geschichte, aller filmischen Umsetzung entkleidet, ist sicher kein Himmelsstürmer, aber so verballhornt zu werden, hat sie bestimmt nicht verdient. Urs Odermatt schlug den Krimi kaputt und bot dafür billigsten Klamauk und Geschmacklosigkeiten, die in einem völlig überflüssigen Opa gipfelten, der, schräg ins Bild gesetzt, einen deutschlandweiten Wettbewerb für die deformiertesten Ohren hätte gewinnen können. Odermatt war nicht aus auf Schauspielerei, sondern auf schäbige Typisierung. Ihm gleichwertig zur Seite sein Kameramann Fritz Moser, der mit seinem Gerät sinnlos herumfuhrwerkte und, wenn ihm gar nichts mehr einfiel, blödsinnige Details ablichtete.

 

Wie Angelica Domröse da hineingeriet, ist schleierhaft. Sie trat energisch auf, raunzte um sich herum und reckte den straff bandagierten Arm in die Höhe. Nur in dem Doppelbild Mutter und Kind (die eine mit Baby, die andere mit Katze) konnte sie sich das Lachen nicht verkneifen. Das war die sympathischste Sekunde. Ihr Partner Dominic Raacke kam mit zwei "Erfindungen" aus – er ruckte mit dem Kopf wie eine Schildkröte und schmiß immerzu seine langen Locken zurecht.

 

Gleich zwei Redakteure, Ulrich Bendele und Thomas Martin, waren beteiligt. Dieser Berufsstand scheint zu verkommen. Es gehört doch eigentlich zum Handwerk, daß man weiß, was ein Genre ist, was eine Story, was eine Figur. Und man sollte wissen, daß man bei allem, was man macht, wenigstens den Anflug eines Gedankens haben sollte. Dieses Team hier wollte nichts – nur sich selbst exhibitionieren. Deutlicher kann man seine Verachtung der Zuschauer nicht zeigen. Man sollte für den Polizeiruf 110 ein Notruf-Telefon einrichten und hoffen, daß entweder der ORB oder der MDR abnimmt.

Renate Stinn

Kaputtgeschlagen

Evangelischer Pressedienst – Kirche und Rundfunk, Frankfurt am Main, 19. Juni 1996

Ein blasses Mädchen mit strähnigem Haar und großen blauen Augen sitzt auf dem Klo eines schmuddeligen Badezimmers und vertieft sich in einen Groschenroman. Nur eine kurze Szene im Polizeiruf 110: Kleine Dealer, große Träume, aber ein Moment mit starker Aussagekraft. „In Bibi brennt eine riesige Sehnsucht nach Geborgenheit, Liebe und Wärme, die sich bis ins Kitschige steigert. Während sie liest, baut sich Bibi ihre eigene heile Welt“, erklärt Nadja Uhl die Gefühle der drogensüchtigen Minderjährigen, die sie in dieser Produktion spielt. Eine Rolle, in der die 24jährige Schauspielerin permanent zwischen zwei Extremen pendelt. „Der Wunsch nach einer harmonischen Zukunft wechselt sich ab mit Bibis abgrundtiefem Haß auf die Sucht, ihrer Skepsis und der Verschlossenheit gegenüber ihrer Umwelt.“

 

Um sich in die erdrückenden Probleme der Filmfigur einfühlen zu können – die drogensüchtige Bibi ist schwanger und will das Kind behalten – betrieb Nadja Uhl Seelenforschung. „Ich habe versucht, mir vorzustellen, was ich in dieser Situation machen würde. Ich halte im Leben alles für möglich, auch in meinem eigenem. Jeder hat Abgründe in sich, man muß nur an den richtigen Stellen suchen“. Der Polizeiruf 110 sei jedenfalls eine „Sahne-Arbeit“ gewesen, an die sich das in Stralsund geborene  Nachwuchstalent gerne erinnert. Das liegt einerseits an dem Schweizer Regisseur Urs Odermatt („Er fordert und achtet seine Schauspieler“), mit dem sie kürzlich an der Seite von Suzanne von Borsody das Fernsehspiel Zerrissene Herzen drehte. Andererseits liegt es an den Kollegen, die ihr in Kleine Dealer, große Träume zur Seite standen.

 

Rosemarie Fendel, Angelica Domröse, Jürgen Vogel – eine Besetzungsliste, die einer Newcomerin Respekt einflößt? „Ich verharre nicht immer in passiver Ehrfurcht, sondern koste es aus. Es beflügelt und macht mich stolz“, erklärt die Absolventin der Leipziger Hans-Otto-Theaterschule. Seit Januar 1994 ist sie am Potsdamer Theater engagiert. Zwischen Bühne und Set pendelt Nadja Uhl momentan „wie zwischen zwei Lieben“. „Ich möchte beides nicht missen, aber trotzdem gute Arbeit leisten. Solange die jeweiligen Verpflichtungen nicht untereinander leiden, werde ich sie weiterhin mit Herzblut betreiben.“

 

Freizeit ist dabei allerdings ein Fremdwort für die sympathische Darstellerin, die den Verlauf ihrer Karriere mit einem kleinen Wunderwerk der Technik vergleicht („Irgendwie greift immer ein Zahnrad ins andere“). Die nötige Kraft tankt Nadja Uhl deshalb bei ihrer Familie und ihren Freunden, die allesamt nichts mit der Schauspielerei zu tun haben. „Wenn ich mit ihnen zusammen bin, dann relativieren sich meine Probleme. Denn manchmal neigt man in meinem Beruf dazu, sich selbst zu wichtig zu nehmen.“

Sabine Soppa

Nadja Uhl und ihre „zwei Lieben“

Aachener Nachrichten, 15. Juni 1996

 

 

 

 

Maskenbildner Helmut Bäck schminkt im Bad die Leiche. Die Leiche hat eine gewaltige Schramme am Kinn, heißt Jürgen Vogel und ist quicklebendig. Eine Welt voller Widersprüche! Macht nichts, wir sind beim Film.

 

Sechs Wochen lang dreht der Süddeutsche Rundfunk (SDR) die neueste Folge vom Polizeiruf 110. Jürgen Vogel ist erst heute morgen, am 28. Tag, zum Team gestoßen. Gerade eben angereist, und schon wird er erstochen. Das sind ja üble Aussichten. Doch Vogel (im Film heißt er Atze) lacht vergnügt: „Ich bin zuerst tot, und morgen werd’ ich wieder reanimiert.“

 

Beim Drehen eines Films geht zeitlich gesehen einiges durcheinander, von Chronologie keine Spur. So wartet die Leiche im Bad stundenlang vergeblich auf ihren Einsatz. Denn zuerst wird Bild 54 gedreht, das nach dem Auffinden besagter Leiche spielt.

 

Zwanzig Menschen drängen sich auf genausoviel Quadratmetern in einem Wohnzimmer in Stuttgart-Bad Cannstatt. Drückend heiß ist’s wie beim Sommerschlußverkauf. Die Scheinwerfer leuchten unerbittlich auch ins hinterletzte Eck. Kein Lufthauch weht, die Fenster sind geschlossen. Die Spannung vibriert, die Schwüle ist auf den Stirnen und Nasenspitzen sichtbar. Ganz übel trifft es Kommissarin Vera Bilewski (Angelica Domröse), trägt die arme Frau doch trotz der Gluthitze Mantel und Schal.

 

„Und bitte“, sagt der Schweizer Regisseur Urs Odermatt höflich. „Kamera läuft“, antwortet Kameramann Fritz Moser. Skriptgirl Katja streckt sich und hält ein DIN A4 großes Brett vor die Luise: „54.1 – die erste.“ Die Klappe knallt, ein bißchen schwächlich.

 

Was bisher geschah: Der Polizeiarzt (Henning Peker) hat die Leiche zumindest der Theorie nach – Atze wartet ja immer noch im Bad – in Augenschein genommen. Jetzt präsentiert er der Kommissarin, ihrem Mitarbeiter Paul Schramm (André Jung) und einem Polizisten (Siggi Schwientek) die Tatwaffe, ein Messer mit einer garstig langen Klinge.

 

Die Personen stehen exakt da, wo sie stehen sollen. Was nicht einfach ist, sonst würde nicht gelbes Klebeband auf dem Boden die Positionen anzeigen. Allerdings: Deswegen ist es so schwer nun auch wieder nicht. Doch genug gescherzt. Schließlich läuft seit ein paar Sekunden die Kamera.

 

Der Polizeiarzt hält der Kommissarin das Messer genüßlich unter die Nase. Die schließt angewidert die Augen und wendet den Kopf zur Seite. Ihrem Mitarbeiter geht es genauso. Er schluckt so verkrampft, daß der Adamsapfel bebt. Der Vierte im Bunde, der Polizist schließlich, muß eine durchsichtige Plastiktüte aufhalten, die Mordwaffe entgegennehmen, sie genau über die Öffnung halten und loslassen (das Messer, nicht die Tüte). Es plumpst. „Kamera aus“, ruft Odermatt. Die Fenster werden aufgerissen. Endlich Luft.

 

Die Domröse fragt: „Macht man das wirklich und zeigt das Messer so herum?“ „Ich mache das so“, antwortet der Polizeiarzt. Damit ist die Sache gefressen.

 

Der Arzt hat allerdings noch eine schwere Zeit vor sich: In einer halben Stunde wird sich die Kommissarin dafür rächen, daß er ihr das Messer direkt unter die Nase drückte. Sie wird loswettern: „Mein Gott, was krieg’ ich denn für gewerkschaftliche Antworten.“ Und der Regisseur wird stumm nicken. Und die Domröse wird den Mediziner weiter von oben herunter abkanzeln wie einen Schulbuben oder genauer: genauso wie sie den Polizisten fertiggemacht hat. Weil der Idiot nämlich die Fahndung verpennt hat.

 

„Und bitte“, sagt Odermatt zum 40. Mal an diesem Tag mindestens und noch immer fein höflich. Der Kameramann antwortet, das Skriptgirl beugt sich vor. Jemand schließt eilig die Fenster. Alles wie gehabt. Nur die Stimme von Angelica Domröse beziehungsweise Kommissarin Vera Bilewski hat sich verändert.

 

Vera Bilewski wendet sich an den Arzt.

 

Vera Bilewski

Haben Sie eine Vermutung über den Todeszeitpunkt?

 

Arzt

Ohne Autopsie? Also, Frau Bisewski...

 

Vera Bilewski

Bilewski! Ich darf doch sehr bitten. – Tot ist er doch?

 

Arzt

Er hat kaum noch Temperatur.

 

Vera Bilewski

Sie meinen, er ist starr wie eine Leiche?

 

Arzt

Zwölf, dreizehn Stunden, vielleicht auch vierzehn. Sie bekommen den Bericht, sobald er fertig ist.

 

Der Polizeiarzt ist echt ein armer Tropf. Er kriegt nicht nur einen derben Anschiß von der Kommissarin, nein, Maskenbildner Back hat ihn auch zurechtgeschminkt, als ob er nicht ganz dicht wäre. Hinter Pekers Ohren hat Back kreuzweise Pflaster geklebt. Die Ohren ragen zur Seite wie Segel. Um den Eindruck zu verstärken, hat Maskenbildnerin Gaby Pohl dem Arzt eine irre Frisur geschnippelt. Die Haare so brav, gestriegelt, altbacken, als würde der Mediziner noch bei Mama wohnen.

 

Der Dreh eines Films ist ein hartes Brot. Die Bilder und Szenen werden unendlich oft wiederholt. So oft, daß sich der Dialog sogar bei denen ins Gehirn einschleift, die das Drehbuch nicht auswendig gelernt haben. Schauspieler brauchen eine Engelsgeduld. Kreativität und Können müssen gepaart sein mit unerbittlicher Disziplin. Zwischen drei und fünf Minuten sind nach einem durchschnittlichen TV-Drehtag im Kasten, weiß Boris Bugla, der Set-Aufnahmeleiter und verlängerte Arm des Regisseurs. Was kein Vergleich zum Kinofilm ist. Da bleibt unterm Schnitt bloß eine Minute übrig.

 

Nicht nur die dauernden Wiederholungen, sondern auch die Pausen nerven. Wolken sind aufgezogen und haben die Sonne hinter dem Grau verschwinden lassen. „Wir brauchen noch zehn Minuten fürs Licht“, verkündet Aufnahmeleiter Bugla. Und was passiert, wenn neu ausgeleuchtet wurde, aber die Sonne es sich inzwischen anders überlegt hat und wieder vom Himmel sticht wie irr? „Dann brauchen wir wieder zehn Minuten.“ Ja, prima.

 

Maskenbildnerin Pohl nutzt die Zeit und wischt Angelica Domröse den Schweiß vom und Puder ins Gesicht. Der Oberbeleuchter und seine drei Helfer ziehen ab. Drei der Schauspieler stehen wieder direkt auf den gelben Klebestreifen. Nur der Polizist fehlt. Ratlosigkeit im Raum. „Der isch grad auf der Toilette", weiß endlich einer. Muß auch mal sein.

 

Deshalb ist jetzt Zeit, um zu erklären, worum es im neusten Polizeiruf 110 geht. Kleine Fische (später: Kleine Dealer, große Träume) spielt im Heilbronner Drogenmilieu. Gedreht wird aber in Stuttgart, Reutlingen, Winnenden und Waiblingen. Allein der Audi der Kommissarin Vera Bilewski trägt eine Heilbronner Nummer.

 

Während eines Polizeieinsatzes bei einer Rauschgiftübergabe trifft Heiner Speth, der Assistent der Kommissarin, auf seinen alten Freund Atze, die spätere Leiche. Heiner läßt seinen Kumpel, der als Bote Heroin an die Dealer übergeben sollte, laufen und wird von Atze immer tiefer in den Fall verstrickt. Eines schönen Tages taucht Atze unerwartet in des Beamten Wohnzimmer auf – als besagte Leiche. Bis es soweit ist, das dauert. Das dauert am 28. Drehtag, der um 9 Uhr begonnen hat, bis abends um 18.35 Uhr.

 

Endlich, der große Auftritt von Jürgen Vogel. Der Bursche liegt auf dem Sofa, ein Messergriff ragt aus seinem Brustkorb. Die Klinge steckt Gott sei Dank aber nicht im Brustkorb des Schauspielers, sondern in einem Holzbrett, das Maskenbildner Helmut Bäck geschickt unter Vogels Hemd plaziert hat. Bäck legt letzte Hand an und streicht „Effektblut„, so heißt das Zeug wirklich, auf den Stoff. Die Flüssigkeit verkrustet wunderbar und lebensecht. Ganz wüst zugerichtet sieht die Leiche aus.

 

Kameramann Fritz Moser: „Und wie kriegt er (Moser meint den Polizeiarzt) das Messer raus, ohne daß sich der ganze Brustkorb hebt.“ In der Tat ein Problem. Auch steckt das Messer zu nah am Bauchnabel und zu weit vom Herz entfernt. „Das Messer weiter nach oben“, fordert deshalb Moser. Jürgen Vogel hebt den Kopf: „Aber nicht danebenstechen“, flachst er.

 

Viermal befiehlt Urs Odermatt noch „Und bitte!“ Sympathisch klingt es, wie er das sagt. Mit einem unverkennbar schweizerischen Akzent. Dann endlich – nach einem langen elfstündigen Drehtag – ist auch die Leiche erfolgreich im Kasten.

Tove Simpfendörfer

Die Leiche ist quicklebendig

Heilbronner Stimme, 3. Juni 1995

 

*

 

Sie melden sich immer noch hie und da zu Wort: griesgrämige Kulturverweser, die ihre Verbitterung über den Verlust der eigenen Jugendzeit zu kompensieren suchen, indem sie alles, was „früher“ war, als „besser“, „wertvoller“, „geistreicher“ deklarieren. Ja, damals, als man noch in vollem Saft gestanden hat, damals, als das Fernsehen noch in den Kinderschuhen steckte und diese herrlich theatralischen Fernsehspiele sendete, aus denen es nur so knatterte und staubte vor lauter Hochkultur – da war für den bejahrten Sauertopf noch alles schön übersichtlich und an geistigen Werten orientiert.

 

Heute jedoch – ach, schon seit Beginn des Fernsehens – ist nur noch der „Verfall“ des Mediums zu konstatieren. Besonders von jenen, die unentwegt verkünden, sie sähen sowieso nie fern, weil ihnen die Zeit dafür zu schade sei. Es ist auch besser so.

 

Sonst müßten die Herrschaften ihr Urteil über die schlechte Qualität der Fernsehfilme womöglich revidieren, in dem sie sich so urgemütlich beleidigt eingerichtet haben. Stören wir also ihre Kreise nicht, lassen wir ihnen das Vergnügen, den Generationenneid in brummiger Kulturkritik zu sublimieren – und freuen wir uns an der erstklassigen Qualität dreier Fernsehfilme aus der letzten Woche, die man in der guten, alten Zeit vielleicht im Abstand von zwei Jahren hätte sehen können – heute hingegen im Abstand von vier Tagen.

 

Das komödiantische Feuerwerk zum Thema künstliche Befruchtung war mit dem Sohn des Babymachers von Thomas Kirdorf (Buch) und Susanne Zinke (Regie) noch kaum verklungen, die Freude am Lubitsch-Touch dieser Komödie erhellte noch immer das Gemüt – da legte das ZDF drei Tage später den Thriller Tödliche Wende von Nico Hofmann (Regie) und Peter Zingler (Buch) nach: eine atemberaubend inszenierte Studie manifester und psychischer Gewalt. Und während das in den Adern gefrorene Blut allmählich taute, winkte schon wieder die ARD mit einem Polizeiruf 110: Kleine Dealer, große Träume (Buch: Klaus-Peter Wolf und Friedhelm Zündel; Regie: Urs Odermatt).

 

Der war nun allerdings auf eine so wunderbar eklektizistische und märchenhaft bunte Weise abgedreht, als hätten die Wilden Herzen, Kottan ermittelt und Gletscherclan Pate gestanden. Melodramatisch grundiert, von Sarkasmus durchschossen, mit Lust an der Persiflage des todernsten Gangsterfilms überhaupt, wird die Geschichte vom Polizisten (Dominic Raacke) erzählt, der sich, zerrissen zwischen gesetzeshüterischer Pflicht und Freundschaft mit einem kleinen Drogendealer (Jürgen Vogel), gegen die Pflicht entscheidet und seinem Freund zu Geld und Flucht verhilft.

 

Man mag kaum den eigenen Augen trauen angesichts eines Inszenierungsstils, der so unbekümmert wie virtuos mit den verschiedenen Genres spielt, der von Komik in Tragik, von der Groteske in Emotionen hinüberwechselt. Und irgendwie fühlt man sich nach diesen drei Fernsehfilmen richtig beschenkt: von öffentlich-rechtlicher Souveränität.

Sybille Simon-Zülch

Nichts für bejahrte Sauertöpfe –

das öffentlich-rechtliche Fernsehen

ist besser, als mancher denkt

Das Sonntagsblatt, Nürnberg, 21. Juni 1996

 

*

 

Bibi

Atze, in zehn Jahren bin ich alt und runzlig.

 

Atze Pöhlein

Quatsch. In zehn Jahren bist du keine dreißig.

 

Bibi

Wirst du mich noch lieben, wenn ich alt und runzlig bin?

 

*

Gynäkologe

Sie ist minderjährig. Das wissen Sie doch, junger Mann.

 

Atze Pöhlein

Ich hab’ Bargeld.

 

*

 

Vera Bilewski

Sie haben ihn bedroht. „Ich bring’ dich um.“ Das waren Ihre Worte.

 

Atze Pöhlein

Das hab’ ich schon zu vielen gesagt. Sie leben alle noch.

 

Vera Bilewski

Richard Becker ist tot!

 

*

 

Vera Pöhlein

Habt ihr Geld? Atze hat nie was gespart.

 

Bibi

Atze wollte Geld besorgen.

 

Vera Pöhlein

Geld muß man sich verdienen.

 

*

 

Legendär – damals eine Frechheit für Redakteure und Publikum, heute die Filmsprache, die alle sprechen.

Jasmin Morgan