Urs Odermatt Arnold Odermatt The Odermatt Channel The Odermatt Shop Nordwest Film AG, alte Spinnerei 1, 5210 Windisch, Schweiz, +41 56 442 95 90, mail@nordwestfilm.ch Wachtmeister Zumbühl Filme Inhalt Besetzung Stab Presse Photos Auswertung

(...) „Schafsecku!“ Eine sehr schweizerische Äußerung, herzlich, befreiend – und ungewohnt. Nein, nicht im Alltag, da nehmen wir sie kaum noch wahr. Aber in einem Spielfilm im Kino – da tönt das schon verblüffend lebensecht. Für die Leute in diesem fiktiven Napfmoos an der lokalen Bahnlinie, Kanton Nidwalden, ist die urchige Interjektion die verbale Ultima ratio. Wenn ihnen alle Worte fehlen, dann kommt zumindest dieses noch: „Schafsecku!“

 

Selbst der stotternde Albin bringt’s in einem Zug über die Lippen, allerdings nicht allzu laut. Albin hat einen strengen Vater, den Wachtmeister Zumbühl. Dieser Zumbühl, gespielt vom Ostberliner Michael Gwisdek und synchronisiert von Ueli Jäggi, ist kein Wachtmeister Studer, kein „Polizischt“ Wäckerli, auch wenn Urs Odermatt sie alle ein bißchen mitnimmt über den Titel seines Films. Der Zumbühl ist ein grausam lebensechter „Lanteger“ (Landjäger). Er wird wohl respektiert im Dorf Napfmoos, wahrscheinlich mag man ihn hier aber nicht so sehr.

 

Der starke, reiche Mann von Napfmoos, der „Gmeindspresidänt“ Mathis (Rolf Hoppe), sucht jedenfalls nach einer Gelegenheit, Zumbühl loszuwerden, da es dieser gewagt hat, Mathis wegen Alkohols am Steuer zu belangen. Und als Zumbühl einmal aus Ärger mit dem Karabiner aus dem Schlafzimmerfenster ballert, sieht Mathis seine Stunde gekommen.

 

Schon wild, was Odermatt alles in seine Geschichte gepackt hat: Der Zumbühl verzichtet auf sein Amt und geht als Vorarbeiter zur Bahn, um dem Rausschmiß zuvorzukommen. Auf den Gleisen findet er eines Morgens ein vergewaltigtes Mädchen, nur um kurz darauf herauszufinden, daß ausgerechnet sein Albin der Täter war. „Äs isch es Buschbers! Gschändet hesch es! Wene Hund!“ herrscht er seinen Sohn an. Und verlangt, daß er die Maria heirate, um die Schande ungeschehen zu machen. Daß die Maria von der Idee nicht sehr angetan sein dürfte, kommt dem sturen Gerechtigkeitsfanatiker erst relativ spät in den Sinn. Daß sein Sohn hingegen nicht mitspielen mag – das ist wenig relevant.

 

Ja, wild sind sie, die Innerschweizer Dorfgeschichten des Urs Odermatt. Und wir haben den Johnny, des „Gmeindspresidänts“ Mathis’ Sohn, noch gar nicht erwähnt. Der ist nämlich in Amerika, weil dem Vater sein „Gschpuisi“ mit der Maria nicht gepaßt hatte. Und aus Amerika ruft der Johnny jede Nacht um vier per Collect call die Maria im Bahnhofschuppen Napfmoos an. Die Gespräche wird Wachtmeister Zumbühl in seiner neuen Funktion als Bahnbeamter dem Mathis später in Rechnung stellen.

 

Wir haben auch noch nicht erwähnt, daß Zumbühls Frau davongelaufen ist, vor seiner Rechthaberei. Zumbühl hat selbst dafür eine einleuchtende Erklärung: Jahrelang habe er nachts gearbeitet und sie bei Tag. Das sei eine schöne Zeit gewesen. Dann hätte sie auch zur Nachtschicht gewechselt und herausgefunden, daß es nichts „z prichte“ gab zwischen ihnen. Er hätte das gewußt. Sie nicht.

 

Urs Odermatts Film gratwandert zwischen dörflicher Dramatik, kinotraditioneller Polizistentragik und einem urkomisch bissigen Résumé innerschweizerischer Zustände. Das ist alles sehr ungewohnt geworden im Schweizer Spielfilm. Odermatt zeigt eine Form von Engagement, die uns in den siebziger Jahren verlorenging: Er ist böse, präzise, giftig und dabei voller Zuneigung für seine Figuren und Verständnis für die gewohnten und die gewohnt mauscheligen Machtverhältnisse.

 

Wenn Zumbühl im Film beharrt: „Ich ha niä neyd ugraads gmacht!“, dann liegt in der dialektalen doppelten Verneinung die ganze Wahrheit des heimatlichen und heimeligen Halbdunkels. Wenn er zum Schluß des Films den „Gmeindspresidänt“ Mathis dahingehend erpreßt, daß der vorbestrafte Albin nach verbüßter Zuchthausstrafe den Posten als Dorfpolizist bekommen wird, singen die Heilsarmeeschwestern im Hintergrund schon wieder: „Immer auf Gott zu vertrauen, das ist der beste Weg!“

 

Zumbühl bleibt sympathisch. Das ist  Odermatts originellste Leistung mit diesem Film: Er hat es geschafft (nicht zuletzt dank der glänzenden Dialektsynchronisation), eine Realitätssatire zu schaffen, die unsere Verhältnisse kennt und trifft, aber nicht rummäkelt, sondern kurz und träf zubeißt und dazu auf den Stockzähnen grinst. Ich hab’s erst geglaubt, als zwei Drittel des Films vorbei waren. Schafsecku!

Michael Sennhauser

Ein sattes Vergnügen

Basellandschaftliche Zeitung, Liestal, 9. September 1994

 

*

 

Regisseur Urs Odermatt hat ein neues ländliches Dialektdrama von sperriger Schwere, aber mit spürbar authentischem Hintergrund gedreht. Er macht Filme stracks an der Kritik vorbei. Beim Publikum sind sie willkommen, auch wegen ihres gewollt helvetisch provinziellen Charakters. Es sind Geschichten aus dem Hinterland, die auf Urs Odermatts Kenntnis seiner Pappenheimer fußen. Manchmal etwas verkorkst und schwerfällig, haben sie den Reiz einer gewichtig-rauhbauzigen Authentizität. Man spürt, da schaut einer nicht amüsiert auf kauzige Dörfler hinab, sondern er empfindet sich, im Guten wie im Schlechten, selbst als einer von ihnen.

 

Die Figur des Wachtmeister Zumbühl ist Arnold Odermatt nachgebildet: Der Vater war bei der Nidwaldner Kantonspolizei. Der Sohn hat einige Photographien, die der Alte im Dienst gemacht hat, in einem Bildband veröffentlicht – Ansichten eines Lebens und einer Zeit, die Provinzialität von der Sorte atmet, wie sie der Film verbreitet. Nahezu autobiographisch stellt sich in diesem Zusammenhang die Filmfigur des Sohns (Jürgen Vogel) von Wachtmeister Zumbühl dar. Albin ist ein Stotterer, der, ohne es wirklich zu wollen, ein Mädchen (Anica Dobra) schändet, das ihn auslacht. Und sich, im Wissen, gerettet zu werden, auf-, aber nicht erhängt. Der Titelheld (Michael Gwisdek), beim Korps wegen Übereifers geschaßt, muß zum Rechten sehen. Dabei kommt er selbst kaum zurecht. In einem Habitus, der das Jahr 1966 plausibel markiert, kommt eine schwüle Stimmung auf, die an Fredi Murers Höhenfeuer erinnert. Die Synchronisation der Schauspieler mit Nidwaldner Dialektsprechern folgt der Methode, die in Murers Film erprobt wurde. Nicht zuletzt dank dieses Verfahrens bringt Wachtmeister Zumbühl eine Reihe von sehens- und hörenswerten Passagen zu Gemüt.

Pierre Lachat

Polizistensöhne

Tages-Anzeiger, Zürich, 2. September 1994

 

*

 

In seinem zweiten Spielfilm Wachtmeister Zumbühl schildert der Nidwaldner Regisseur Urs Odermatt eine tragikomische Vater-Sohn-Beziehung in der miefigen Provinz der sechziger Jahre. Die präzisen Bilder und der groteske Humor erinnern an große osteuropäische Vorbilder.

 

Ein Winterabend in Napfmoos, Mitte der sechziger Jahre: Das ganze Dorf besäuft sich, außer Wachtmeister Zumbühl. Der steht mit verbissenem Ernst und roter Nase in der Kälte, wischt sich die letzten Herbstblätter aus dem Gesicht und kündigt seinem Polizistenkollegen per Funk an, wer gerade in welchem Zustand die Beiz verläßt. Im Verlaufe des Films werden wir ihn, so rechtschaffen wie rechthaberisch, kennen- und ein wenig liebenlernen. Auf allzu große Sympathie wird er – wie alle Figuren in diesem seltsam kühlen Film – allerdings nicht stoßen: Von seiner Frau verlassen, hockt der Landjäger landjägerkauend in seiner biederen Küche oder grunzt grantig vor sich hin

 

Dieser furchtbar schweizerische Besserwisser Zumbühl, hervorragend gespielt vom ostdeutschen Bundesfilmpreisträger Michael Gwisdek, wäre nicht die Hauptfigur, wenn da nicht das Verbrechen wäre, das dem Film die vordergründige Handlung gibt. Wegen eines geringen Vergehens von den Vorgesetzten geschaßt, arbeitet Zumbühl bei der Bahn. Auf den Gleisen findet der Expolizist eines Morgens ein brutal geschändetes Mädchen. Bald weiß er, daß als Täter nur sein leicht debiler Sohn Albin in Frage kommt. Wie er den Konflikt zwischen Berufsauffassung und der Blutsbande löst, bestimmt weitgehend die Dramatik. Jedoch weniger die etwas unglaubwürdige Handlung, als vielmehr die Atmosphäre und Stimmung im (fiktiven) Nidwaldner Nest Napfmoos in den sechziger Jahren und die sprachlosen, in sich gekehrten Personen sorgen für Spannung und Dichte in diesem Schweizer Dialektfilm.

 

Hier herrscht der Mief der Provinz: Wer anders ist oder seinen eigenen Weg geht, wird verspottet (wie die Zumbühls) oder vergewaltigt (wie das Mädchen). Die meisten Begegnungen im Dorf enden mit dem Wort „Schafseckel“. (...) Mit präzisen Bildern, durchwegs überzeugenden Schauspielern (deren Bühnendeutsch von Nidwaldner Laien synchronisiert wurde) und groteskem Humor gelingt Urs Odermatt eine beklemmende Zeichnung dörflicher Enge in den sechziger Jahren, als die Moral noch Konturen hatte. Als Sohn eines photographierenden Dorfpolizisten kann er aus seiner Autobiographie schöpfen. Er kennt seine Pappenheimer, und er kennt die ambivalente Faszination der Provinz – sei es in Nidwalden, Litauen oder Oberösterreich.

 

„Ich versuche, Geschichten weder als reines Unterhaltungskino noch als kalorienarmes Cinéphilenfutter zu erzählen“, sagt Odermatt, dessen Erstling Gekauftes Glück der erfolgreichste Schweizer Film des Jahres 1989 war. Auch mit dem spröd-vertrackten Wachtmeister Zumbühl begibt er sich auf die Gratwanderung zwischen lautem Mainstream und sperrigem Studiofilm. Möglich, daß er dabei unverdientermaßen zwischen Stuhl und Bank fällt – aber wer weiß schon, wann und warum ein Loach oder ein Kieślowski ihr Publikum über die Kritiker hinaus fanden?

Marcel Elsener

Osteuropäisch geprägte Tragikomödie im Provinzmief der sechziger Jahre

Die Ostschweiz, St. Gallen, 6. September 1994

 

*

 

Wachtmeister Zumbühl erinnert an eine Ikone des alten Schweizer Films, Leopold Lindtbergs Wachtmeister Studer (1939). In beiden Filmen haben eigenwillige, sture Einzelgänger als Polizisten ein Verbrechen zu lösen – Studer (Heinrich Gretler) einen Mord, Zumbühl (Michael Gwisdek) eine Vergewaltigung. Während Studer den mächtigen Gemeindepräsidenten Aeschbacher erst nach langwierigen, minutiös geführten Nachforschungen und einigen Rückschlägen ganz am Schluß des Films als Täter überführen kann, steht für Zumbühl schnell fest, daß Maria (Anica Dobra), die er eines Morgens übel zugerichtet im Güterbahnhof von Napfmoos im Kanton Nidwalden findet, von seinem Sohn Albin (Jürgen Vogel) vergewaltigt worden ist, nicht vom Gemeindepräsidenten Mathis (Rolf Hoppe), dem ebenso schlitzohrigen wie unsympathischen Dorfgewaltigen und Kiesgrubenbesitzer, bei dem Maria als Bureauangestellte arbeitet. Für Zumbühls Rechtsempfinden gibt es nur eine Alternative: Entweder heiratet Albin die geschändete junge Frau, oder er stellt sich der Polizei. Maria zu fragen, was sie von diesem Plan hält, kommt ihm keine Sekunde in den Sinn.

 

Im Gegensatz zum mürrisch-jovialen Wachtmeister Studer mit dem mitfühlenden goldenen Herzen ist Wachtmeister Zumbühl ein verschlossener, hager-asketischer, paternalistischer Typ, dessen Redlichkeit und Rechtschaffenheit leicht in sture Rechthaberei kippen. Toleranz und Großzügigkeit sind ihm fremd. So postiert er sich zu Beginn des Films ausgerechnet dann im naßkalten Hudelwetter vor der Dorfbeiz „Adler“, um Blaufahrern aufzulauern, wenn eine behördlich bewilligte Freinacht stattfindet. Prompt geht ihm Gemeindepräsident Mathis in die Falle, worauf dieser den Führerschein für einige Zeit los ist. Mathis läßt seine Wut an einem aus, der sich nicht wehren kann: am Sohn des Wachtmeisters. Obwohl Albin das talentierteste Mitglied des vom Gemeindepräsidenten gesponserten Motocroß-Teams ist und in dessen Kiesgrube auf einer knatternden Monark (mit schwedischem 498-cm3-Albin-Motor!) Übungsrunden drehen darf, verknurrt Mathis den stotternden, brilletragenden, selbstunsicheren Jüngling wieder zu seinem alten Job als Kranführer in luftiger Höhe. Auch sorgt er dafür, daß Albin im Schießstand, wo jeder seiner Schüsse ins Schwarze trifft, nur Nuller zu sehen bekommt. Dies erbost Zumbühl, der den Betrug aus der Wohnung beobachtet, derart, daß er seinen Karabiner holt und vom Schlafzimmerfenster auf die Zielscheibe ballert. Um die Chancen seines Sohns, der nach väterlichem Willen ebenfalls Polizist werden soll, nicht zu gefährden, kommt er einer Disziplinarstrafe zuvor, demissioniert und wird Vorarbeiter im Napfmooser Bahnhof, wo er die im Güterschuppen mißhandelte und mißbrauchte Maria findet. Als gelernter Polizist sichert er alle Beweise und dokumentiert photographisch die Spuren. Erst versteckt er Maria in einem Güterwaggon, später trägt er sie in seine Wohnung, legt sie ins leere Ehebett und pflegt sie fürsorglich.

 

Um sein gestörtes Rechtsempfinden wieder ins Lot zu bringen, prügelt Zumbühl seinen sich sträubenden Sohn dazu, Maria einen Heiratsantrag zu machen. Aber Maria lehnt diese nachträgliche Legalisierung der Vergewaltigung ab. Ihr graust vor einem Leben mit dem halsstarrigen, einsamen Vater und dem von ihm unterdrückten, schwächlichen Sohn. Also bleibt Zumbühl nur eine Konsequenz: Albin muß sich der Polizei stellen. Dieser weigert sich und flüchtet zu seiner Mutter, die Zumbühl vor sechzehn Jahren verlassen hat und in Bülach, „schon fast in Deutschland“, bei einer Sekte lebt. Zumbühl erstattet Anzeige gegen seinen Sohn und liefert die fein säuberlich gesammelten Beweise. (...)

 

Odermatt erzählt eine Geschichte, deren Charaktere und Milieu ihm aus eigener Erfahrung vertraut sind. Zumbühl ist so etwas wie ein typischer (Inner-)Schweizer: verschlossen, dickschädlig, wortkarg, penibel korrekt, rechthaberisch, ein Mann, der alles seinen Prinzipien unterordnet. Er lebt in einer engen, abgeschlossenen Welt. Atembeklemmende Enge ist ein Charakteristikum des Films: Es gibt keine Ausblicke in die Landschaft, fast alles spielt sich in geschlossenen Räumen ab – im Güterschuppen, im Bahnwaggon, in der miefigen Wohnung Zumbühls. Überhaupt ist das Zeitkolorit der sechziger Jahre sehr gut getroffen, von den Oldtimern DKW 3=6 und Borgward Isabella bis zum East-of-Eden-Filmplakat in Albins Zimmer – eine Reminiszenz an einen berühmten Film, der ebenfalls einen Vater-Sohn-Konflikt zum Thema hat.

 

Aber Zumbühl wird nicht bloß als sturer, herzloser Typ geschildert, er ist auch menschlich sympathischerer Regungen und Gefühle fähig, was sich etwa in seiner Fürsorglichkeit für Maria zeigt. Die eindrücklichste Szene des Films ist wohl jene, in der Zumbühl – in einem für ihn ungewohnten Redefluß – Maria seine seelische Not als Polizist offenbart, der seit zwanzig Jahren im Durchschnitt einmal jeden Monat Eltern die schreckliche Nachricht überbringen muß, daß ihr Kind oder ein Angehöriger Opfer des Verkehrs geworden ist. Diese Szene verstehe ich als Hommage des Regisseurs an den Vater Arnold Odermatt, der während fast fünfzig Jahren die Verkehrsunfälle im Kanton Nidwalden dokumentiert hat.

 

Zu den bestechendsten Aspekten von Wachtmeister Zumbühl zählt Urs Odermatts Gelingen, seine Geschichte nicht zu zerreden, sondern in Bildern zu erzählen (erfolgreich unterstützt von der Kamera Rainer Klausmanns). Dazu gehören öfters wiederkehrende Bildmotive, etwa wenn Zumbühl sich am Küchentisch ausschließlich von Landjägern zu ernähren scheint. Auch die Lakonik der wortgeizigen Dialoge überzeugt (die Synchronisation der meist deutschen Schauspieler und Schauspielerinnen mit Nidwaldner Laienspielern unter der Leitung von Franz Troxler ist erstaunlich gut gelungen). Allerdings ist da manchmal des Guten etwas viel getan, etwa wenn das sprachlosigkeitsignalisierende, jeweils abschließend-wuchtig den Konflikt einer Szene beendende Schimpfwort „Schafseckel“ über ein Dutzend Mal eingesetzt wird.

Franz Ulrich

„Du wirst!“

Zoom, Zürich, September 1994

 

*

 

Regisseur Urs Odermatt (Gekauftes Glück), der Sohn des Nidwaldner Polizisten und Photographen Arnold Odermatt, erzählt mit Wachtmeister Zumbühl die Geschichte eines Landjägers, der seinen Sohn mit Besserwisserei in ein Verbrechen treibt. Wachtmeister Zumbühl weckt Erinnerungen an Friedrich Glausers Wachtmeister Studer und Schaggi Streulis Polizist Wäckerli, zwei legendäre Figuren des alten Schweizer Films. (...) Ursprünglich hat Urs Odermatt die Geschichte eines integeren Dorfpolizisten geplant, der eine Lappalie begeht: Er zielt mit dem Dienstrevolver von der Straße auf die Zielscheibe eines Schießstands, trifft ins Schwarze und bekommt eine Buße. Da er als sicherer Schütze die Strafe ungerecht findet, holt er sich das Geld zurück, indem er für die gleiche Summe Parkuhrenerlöse nicht abrechnet. Er wird erwischt und aus dem Polizeikorps entlassen. Ein Jahr später steht der Fehltritt als Schlagzeile im Blick. Der Sohn des Polizisten bringt sich am nächsten Tag um.

 

Bei der Arbeit an diesem Ur-Wachtmeister-Zumbühl trieb Odermatt die Frage um, was mit Zumbühl geschieht, nachdem er die Stelle verloren hat, und was es für Konsequenzen hätte, wäre der Sohn nicht Selbstmörder, sondern Täter. Wachtmeister Zumbühl, der gnadenlose Beamte, der seine Falle für alkoholisierte Automobilisten mit Vorliebe vor die Dorfbeiz legt und beim Gemeindepräsidenten Mathis (Rolf Hoppe) keinen Pardon kennt, nimmt den Hut, um dem Rausschmiß zuvorzukommen. Von seinem stotternden Sohn Albin (Jürgen Vogel), der immer unter dem harten Regime des Vaters gelitten hat, fordert er, daß er bei der Polizei in seine Fußstapfen trete, damit er endlich ein Mann werde. Die Zumbühlsche Rechthaberei, die Albins Mutter aus dem Haus und in die Arme einer Sekte getrieben hat, findet ihren tragischen Höhepunkt: Als die hübsche Maria (Anica Dobra) sich bei einem ungeschickten Annäherungsversuch über Albin lustig macht, verliert er die Beherrschung und vergewaltigt das Mädchen. Wachtmeister Zumbühl, der später ihren Selbstmord mit knapper Not verhindern kann und, so akribisch wie voyeuristisch, die Spuren an ihrem Körper photographisch festhält, ahnt – was bald zur Gewißheit wird –, daß Albin die Tat begangen hat. Um den Strafbestand aus der Welt zu schaffen (in den sechziger Jahren war Vergewaltigung in der Ehe kein Delikt), drängt er die beiden zur schnellen Heirat. Andernfalls, droht Wachtmeister Zumbühl, müsse er seinen Sohn anzeigen.

 

Der Ostberliner Schauspieler Michael Gwisdek, der die Titelrolle in beklemmender Weise ausfüllt, die authentische Ausstattung, die eindringlichen Bilder von Kameramann Rainer Klausmann und Odermatts präzise Führung der Schauspieler schaffen genaue Psychogramme und lassen die stickige Provinzatmosphäre jener Tage in seltener Intensität aufleben.

 

Entgegen aller Vermutungen verstehen sich der Regisseur und Arnold Odermatt besser denn je. Vater Arnold stellte nicht nur die im Buch Meine Welt veröffentlichten Photos für Wachtmeister Zumbühl zur Verfügung, sondern konnte sich als Pensionär die Zeit nehmen, bei den Dreharbeiten bestechende Standphotos zu schießen. (...)

Reinhold Hönle

Odermatt & Odermatt

Der Zürcher Oberländer, Wetzikon, 2. September 1994

 

*

 

Si vous vous ennuyez d’un cinéma pince-sans-rire, minutieux jusque dans les moindre détails, savoureux comme du chocolat, précis comme une montre suisse, sarcastique sans cesser d’être sérieux, il faut vous précipiter voir Brigadier Zumbühl. (...)

 

Le film renoue avant tout avec le cinéma tchèque des années soixantes, le cinéma des Forman et Passer. L’art d’Odermatt repose sur un sens remarquable de l’observation, sur l’existence d’un univers personnel, un petit monde qu’il recrée et fait revivre et qui s’imprime dans la tête du spectateur avec une très vive sensation de réalité. Pour arriver à ce résultat, le réalisateur a su allier la précision suisse à la rigueur germanique. D’où un film qui ne dévie jamais de sa trajectoire. En fait, le héros va se retrouver au centre d’un dilemme cornélien. Le fils fainéant du brigadier a violé une jeune fille. Comment va réagir le père? En camouflant le crime ou en dénonçant son fils? (...)

 

Brigadier Zumbühl ressemble à une montre suisse qu’on démonterait sous nos yeux. De l’extérieur, tout a l’air si simple. Mais dès qu’on la décortique, qu’on pénètre dans ses arcanes, un monde complexe se révèle. Tel est le brigadier Zumbühl. À travers un comportement qui semble d’abord aberrant, Odermatt nous fait pénétrer dans sa psyché. Dans ce personnage, Michael Gwisdek m’a paru fascinant. Le film va ainsi de tic en tac, de surprise en surprise par petites touches imperceptibles jusqu’à un dénouement difficile à prévoir.

Luc Perreault

La Presse, Montréal, 25. März 1995

 

*

 

Gott, Vater, Sohn – in der Moderne ist diese einst religiös beseelte Trias zu einem Schauplatz leerer Transzendenz geworden, auf dem im Kontext familiärer Herkunft und Prägung ein individualistischer Kampf um Fremd- und Selbstbestimmung wütet. Kafka läßt immer dann grüßen, wenn dieses Spektakel von einem monomanischen Täter-Vater bestimmt wird, der sich zur alleinigen Definitionshoheit, zu einer quasi gesetzlichen Instanz mit verheerenden Auswirkungen auf die Individuation des Sohns ermächtigt hat. Die Bewältigung des Vater-Sohn-Dramas und die Selbstbehauptung des Sohns vollzieht sich bei Kafka im Medium großer Kunst, offenbart – die Briefe an Milena zeigen das – aber auch die biographische Dimension kläglichen Scheiterns. Kunst, konstruktivistisch gedacht, gelingt immer nur auf der Basis von Lebenskunst. Einen Ausweg aus dem Vater-Sohn-Dilemma gibt es nur über die Verwirklichung der Trias Vater, Sohn, Künstler. Beide, Vater und Sohn – idealtypisch gedacht –, müßten im Grunde zu Lebenskünstlern werden, dann ist gelingendes Leben und Versöhnung möglich. Häufig geht es aber nicht zusammen oder nicht wirklich; nicht ganz selten sind oder werden beide Lebenskünstler, manchmal sind beide gar Künstler, und es geht – contrecœur – zusammen. Oder es kann nur gegeneinander etwas werden.

 

Urs Odermatt läßt mit seinem meisterlich mit autobiographischen Abstraktionen und Subtexten erzählenden Spielfilm Wachtmeister Zumbühl einen anderen Horizont von Versöhnung auf eine erstaunliche und filmhistorisch einzigartige Weise aufscheinen, weil er ihn biographisch realisieren konnte. Zunächst ist Wachtmeister Zumbühl kafkaeskes Vater-Sohn-Drama im topographischen Rahmen des fiktiven Schweizer Dorfs Napfmoos mit dem typischen Provinzspießer-, Cliquenwirtschafts- und Intrigantenpersonal. Der Wachtmeister-Vater repräsentiert beruflich penibelst das Gesetz, der Sohn hat sich in einen Stotterer mit „Launen wie ein Mädchen“ (Zumbühl) verwandelt, die Mutter ist der verstörenden familiären Situation längst entflohen. Wie bei Kafka lauert in jeder charakteristischen Facette der Vater-Sohn-Beziehung das Lächerliche. So mißlingt dem Vater nach einem Streit die väterlich-besänftigende Berührung der Schulter des Sohns – er zieht die Hand auf halbem Weg zurück –, dem Sohn geraten im Gespräch mit dem Vater über sein Liebesobjekt Maria die Possessivpronomina durcheinander: „...unsere Frau...“ – „Meine!“ – „Wieso deine?“ Ohrfeige. „...meine Frau wirst.“

 

Dynamik gerät in das Dorfdrama, als der talentierte Motocroßfahrer Albin das Vehikel seiner Potenz und beruflichen Selbstbestimmung, seine Rennmaschine, verliert, weil sein Vater, Wachtmeister Zumbühl, dessen Arbeitgeber, den Gemeindepräsidenten Mathis, wegen einer Suffahrt nach dem Besuch im „Adler“ anzeigt und dieser aus Rache Albin wieder zum Kranführer degradiert. Albins unerwiderte Liebe, Maria, macht sich mit einem Blendspiegel über den im Kranführerhaus wie in einem dysfunktionalen Phallus inmitten einer vertrockneten Steinbruchvulva sitzenden Albin lustig. Der übergedemütigte, ohnehin latent aggressive Albin rächt sich blutig. Napfmoos wird zu einem Twin Peaks in Nidwalden, einem Ort des Horrors, in dem der innere Kampf des Guten gegen das Böse sichtbar wird – und verloren scheint. In einem ausrangierten Güterwaggon pflegt Wachtmeister Zumbühl die von Albin schwer geschändete und nach einem Selbstmordversuch von ihm mit knapper Not von den Bahngleisen gerettete Maria. Als später ein Schatten über die auf einer Matratze schlummernde Maria streift und sie erwachend aufschaut, sieht sie Wachtmeister Zumbühl und plötzlich – in einer lynchesken Überblendung – in dessen Gesicht das Antlitz des mörderischen Sohns Albin. Die Tragödie scheint vorgezeichnet.

 

Urs Odermatt baut jedoch in Wachtmeister Zumbühl einen Magic moment ein, der verblüfft und die Geschichte – mit verfremdeten Rollen – mit einem Kapitel seiner eigenen Biographie, über dem die Überschrift „Die Erfindung des Vaters als Künstler“ stehen könnte, sowohl kontrastiert als auch auf wundersame Weise synchronisiert. In dieser magischen Filmszene blitzt auf, was sich im realen Leben des Autors und Regisseurs Urs Odermatt tatsächlich ereignet hat. Es ist die unter den Fittichen von Wachtmeister Zumbühl wiedergenesende Maria, die auf der Suche nach einem Wasserglas im Küchenschrank zahlreiche Schuber mit formscharf arrangierten Autounfallphotos in Schwarzweiß findet. Am Küchentisch befragt sie den störrisch landjägerwurstkauenden Zumbühl: „Machen das alle Wachtmeister?“ – „Nein. (…) Nur ich. (…) Meine Erfindung“, gibt dieser mürrisch zur Antwort. Das künstlerisch Einzigartige dieser in die Filmhandlung geschmuggelten – und inzwischen real weltberühmt gewordenen – Photographien erkennt Maria nicht (wie auch Albin, der den Inhalt des Küchenschranks kennen muß). Sie fängt gar an zu weinen, als Wachtmeister Zumbühl von der schwierigsten Aufgabe als Polizist, dem Überbringen von Todesnachrichten, erzählt, nicht aus Empathie zu den Opfern noch deren Angehörigen oder dem Überbringer, sondern weil sie den Totalschaden der Vater-Sohn-Beziehung im Blick auf die Unfallphotos erkennt und von dem sie als Opfer mitbetroffen ist. In der Opferrolle gefangen – ähnlich wie Albin –, kann sie den Täter-Vater nicht als potentiellen Künstler aufwerten und entdecken (auch mangels künstlerischer Deutungsphantasie). „Warum weinst du?“, fragt Wachtmeister Zumbühl. Maria: „Wegen dir. Ihnen.“ – Ein schneller Schnitt zeigt den für immer familiär versehrten Albin, der durchs Schlüsselloch der Küchentür schaut und dabei den Lichtschalter im Flur ungeschickt an- und ausschaltet.

 

In Wahrheit war es der Sohn und erfolgreiche Künstler Urs Odermatt – bei Gegenwind sagt er gern: „Ich bin kein Mädchen!“ –, der in der Vorbereitung zu Wachtmeister Zumbühl auf dem Dachboden des elterlichen Zuhauses Kisten mit Photos seines Vaters, des Polizisten und Photographen Arnold Odermatt, entdeckte. Dabei ging ihm nicht nur ein Entdeckerlicht auf, sondern er machte sich mit äußerstem Einsatz und Akribie an die konzeptionelle Auswahl und photorestaurative Reproduktion der schon versehrten Photooriginale. Das Ergebnis ist bekannt: Arnold Odermatt, der Polizeiphotograph, wurde zu einem weltberühmten Photoszeneereignis, einem Außenseiterkünstler, erschaffen von Urs Odermatt, der als Sohn einst der Zielfahndung des Vaters ausgesetzt war, aufgrund eines zu vollstreckenden Strafbefehls (natürlich nicht wegen Vergewaltigung, sondern erst wegen Konkubinats, später wegen Wehrdienstverweigerung). Urs Odermatt hatte sich nach Wiesbaden, später auf die damalige Insel West-Berlin abgesetzt, um als Autor, Regisseur und Lebenskünstler konstruktiv zum Täter zu werden. Die Kontingenz von Flucht und Befreiung machte die Erfindung des Vaters als Künstler durch den Sohn erst möglich.

 

Diese einzigartige Sohn-Vater-Erfindung bleibt den fiktiven Figuren in Wachtmeister Zumbühl konsequent verwehrt – zu singulär, zu wenig exemplarisch wäre der Handlungsverlauf in einem Dorf in der Schweiz (und anderswo). Wachtmeister Zumbühl erzählt weiter im Modus der Unglückssimulation, Slapstick karikiert den Irrwitz der Versuche Zumbühls, Albin durch Heirat mit Maria vor dem Knast zu bewahren. Auch wenn Urs Odermatt zurück ins Intrigante, Lächerliche und Absurde eines dörflichen Familiendramas will, läßt er es sich nicht nehmen, in einer Kreismontage mit überraschender Schlußpointe eine weitere versteckte Hommage an die väterlichen Karambolage-Photos zu inszenieren. Nachdem Wachtmeister Zumbühl den Sohn geopfert und ins Gefängnis begleitet hat, beobachtet er eine erneute Suffahrt Mathis’, der torkelnd den „Adler“ verläßt, in seinen Borgward steigt und einen Hydranten rammt. Während aus dem Hydranten Wasserfontänen über den verunfallten Wagen sturzregnen – was für ein Arnold-Odermatt-Bild! Entsprungen der Phantasie des Sohns Urs, eine filmische Transformation der Sohn-Vater-Schöpfung –, setzt sich Zumbühl zu Mathis in den Borgward und erpreßt dessen Zusage, daß Albin nach Zumbühls baldigem Ruhestand Nachfolger als Dorfpolizist werde –, „wenn er wieder draußen ist“. Wie von Zumbühl fast ohne Sarkasmus prophezeit, wird Albin im Dienst Motorrad fahren. Täter-Vater Zumbühl nimmt wieder den Platz des Gottvaters ein und zwingt den Kleinsünder Mathis, die väterliche Berufsansage an den Sohn, der als Exknasti froh sein kann, das Almosen anzunehmen, zu ermöglichen. Am Schluß dieser grotesken Restauration familiärer und dörflicher Ordnung dreht Zumbühl dem semantisch vieldeutigen Karambolage-Filmbild das Wasser ab.

Michael Birkner

Die Erfindungs des Vaters

in: Beiheft der Director’s Edition (Originalbeitrag)

 

*

 

Wachtmeister Zumbühl, der neue Spielfilm von Urs Odermatt, wurde am Donnerstag in feierlichem Rahmen in Altdorf uraufgeführt. Im vollbesetzten Saal des Kino Leuzinger verfolgten gut fünfhundert geladene Gäste die Geschichte des rechtschaffenen Dorfpolizisten, der sich im Kampf um das Gute kompromißlos an den Text der Paragraphen hält und in den Konflikt zwischen Berufsauffassung und Familienbande gerät.

 

Nach der Vorführung wurde – neben den Hauptbeteiligten der Produktion – ein echter Wachtmeister Zumbühl auf die Bühne gerufen, der Chef der Einsatzzentrale der Nidwaldner Kantonspolizei, Paul Zumbühl. Zusammen mit zwei alten Berufskollegen ist er auf dem Filmplakat zu sehen, einer bekannten Photographie seines früheren Chefs Arnold Odermatt, dem Vater des Regisseurs.

 

Als er vor drei Jahren gehört habe, daß Urs Odermatt einen Spielfilm mit dem Namen Wachtmeister Zumbühl drehe, sei er recht skeptisch gewesen, gestand Paul Zumbühl der Nidwaldner Zeitung. Er befürchtete, es gebe eine Geschichte über ihn, über Begebenheiten aus seiner Berufstätigkeit. Die Kollegen haben ihn schnell beruhigt mit der Nachricht, er gebe dem Film nur seinen Namen. Am Donnerstag habe er das Altdorfer Kino mit guten Gefühlen verlassen. Daß er nach der Vorstellung auf die Bühne gerufen wurde, sei eine Überraschung gewesen; damit habe er keinen Augenblick gerechnet. Über diese Ehre, auch über die Tatsache, daß er groß auf dem Filmplakat zu erkennen sei, freue er sich.

 

Die Grundidee von Wachtmeister Zumbühl gefällt dem realen Wachtmeister Zumbühl sehr gut. In vielen Dingen erkenne er sich im fiktiven Wachtmeister Zumbühl wieder, meinte er. Vor fünfunddreißig Jahren habe er den Dienst angetreten und in dieser Zeit ähnliche Sachzwänge erlebt wie der Film-Zumbühl. Dies sei selbstverständlich früher so gewesen, betonte er schnell, junge Polizisten sagten bestimmt, was der Film zeige, habe mit ihrem heutigen Dienstalltag nichts zu tun. Womit er sich weniger identifizieren könne, sei die Autorität, die Strenge des Film-Zumbühls zu seinem Sohn. Da wäre er väterlicher gewesen, meinte er. Auch die harte Sprache, das Fluchen im Film, gefällt Zumbühl weniger. Doch sei die Not der beiden Hauptfiguren sehr gut dargestellt und Wachtmeister Zumbühl viel humaner als Urs Odermatts letzter Spielfilm, Gekauftes Glück. Gut gefallen haben ihm auch die knappen Gespräche und die Art, wie Urs Odermatt die Bilder erzählen läßt.

 

Ebenfalls an der Première anwesend war Nina Ackermann, die einzige Nidwaldnerin, die in Wachtmeister Zumbühl als Schauspielerin mitwirkte. Für ihre kleine Rolle als Spezereihändlerin hat sie vier Tage investiert, viermal ist sie in den Kanton Glarus zu den Dreharbeiten gefahren. Sie war überrascht, daß von den zahlreichen Glarner Statisten fast niemand im fertigen Film zu sehen war. Die Dreharbeiten haben ihr Spaß gemacht, erzählte sie. Sie habe viele spannende Leute kennengelernt, und die Zusammenarbeit mit dem Filmteam und mit Regisseur Urs Odermatt sei sehr entspannt gewesen. Trotzdem spiele sie viel lieber in Buochs Theater, auf der Bühne sei man stets in direktem Kontakt mit dem Publikum und spüre die positiven wie die negativen Reaktionen unmittelbar.

 

An Wachtmeister Zumbühl gefalle ihr die Ruhe, mit der auf weite Strecken die Bilder ohne Dialog erzählen. „Ich weiß nicht, ob wir Innerschweizer wirklich so wortkarg sind“, schränkte sie ein. Die Polizei habe sie bei ihrer früheren Arbeit als Sekretärin in der Polizeidirektion nicht ganz so erlebt, wie im Film dargestellt – die Handlung empfinde sie als etwas überspitzt. „Aber das ist in jedem guten Theaterabend genauso.“ Die Atmosphäre des Films halte sie für sehr stimmig, die Leistung der Hauptdarsteller habe sie beeindruckt. Nun wünsche sie, daß Urs Odermatt viel Erfolg habe mit seinem neuen Film.

rk. (Rosmarie Kayser)

„Ich weiß nicht, ob wir wirklich so wortkarg sind“

Paul Zumbühl und Nina Ackermann waren an der Première des Films „Wachtmeister Zumbühl“

Nidwaldner Zeitung, Stans, 27. August 1994

 

*

 

„Trostlos“, sage ich Urs Odermatt, als wir aus Wachtmeister Zumbühl kommen. „Was ist daran trostlos?“, fragt er zurück. „Das Milieu, in dem der Film spielt.“ „Es ist mein Milieu“, sagt Odermatt, „trostlos ist, in Zürich über den Letten zu gehen und die Drogensüchtigen zu sehen. Dagegen ist mein Milieu gemütlich.“

 

(...) In Odermatts Jugend spielte der Film keine Rolle. „Im Stanser Kino Remi war der Eintritt ab achtzehn, Videos gab es noch nicht, Filme habe ich nur ab und zu am Schweizer Fernsehen gesehen. (...) Bis ein Polizistensohn aus Nidwalden einen Spielfilm macht, geht er einen weiten Weg.“ Nach der Matura zog er nach Wiesbaden und jobbte beim ZDF. Er machte eine „Hospitanz ohne Beschäftigungsauftrag“, was im Klartext heißt, „zwölf Stunden am Tag arbeiten und mit ohne Geld“.

Hildegard Schwaninger

Die Weltwoche, Zürich, 1. September 1994

 

*

 

Wachtmeister Zumbühl ist unausstehlich gradlinig. Er gilt als fanatisch, weil er unerbittlich den Buchstaben des Gesetzes anwendet ‒ ohne Rücksicht auf Verluste. Dem Gemeindepräsidenten entzieht er den Fahrausweis wegen maßlosen Alkoholkonsums. Das kostet Zumbühl seinen Posten. Den eigenen Sohn Albin zeigt er wegen der brutalen Vergewaltigung Marias an. Damit schadet er zwar auch dem Opfer, denn Marias Liebschaft mit Johnny wird die Veröffentlichung der Schändung nicht überleben. Doch Zumbühls Gerechtigkeitssinn erlaubt nur zwei Reaktionen: Entweder heiratet Albin sein Opfer, oder die Geschichte muß polizeilich geahndet werden. Weil Maria den Heiratsantrag Albins ablehnt, sieht sich Zumbühl gezwungen, seinen Sohn zu überführen.

 

Urs Odermatt zeichnet das Porträt eines engstirnigen Urschweizers. Gerechter, als es die Polizei erlaubt, will Zumbühl sein: ein ordentlicher, pünktlicher, untadeliger Bürger. Wenn ihn niemand mag, so haben die Leute oft recht, weil er mit seiner Verbissenheit manchem das Leben unnötig schwermacht. Nur ansatzweise deutet Odermatt auch den weichen Kern unter der rauhen Schale an: die Einsamkeit und Empfindsamkeit des Gerechten. (...)

 

In einigen Dialogpassagen bringt der Autor die Positionen wunderbar auf den Punkt. In solchen Miniaturen vermag er ganze Lebensschicksale zu verdichten: Wir brauchen nicht mehr als die wenigen lakonischen Sätze des Wachtmeisters, und wir sind über seine gescheiterte Ehe im Bild. Auch der von Zumbühl diktierte Heiratsantrag zeigt durch einen gezielten Versprecher des Jungen, daß dieser zeit seines Lebens unter der Knute des Vaters gelitten hat. Auch atmosphärisch und szenisch sind Odermatt eindrückliche Momente geglückt. Der frauenlose Haushalt wird ebenso beiläufig plastisch wie die latente Gewalt im Steinbruch des Gemeindepräsidenten. (...)

Sabina Brändli

Cinema 41, Zürich

 

*

 

Sergeant Zumbühl is the hauntingly precise account of a ramrod straight, by-the-book beat cop and where his inflexible integrity leads him. Set in a small town in German-speaking Switzerland, circa 1964, this meticulous and unflattering portrait won few friends on release last fall in its home territory but is a quietly powerful, if unsavory, piece of work that deserves international fest exposure.

 

A sort of Judge Dredd without the muscles, the hardware or the bustling jurisdiction, Sergeant Zumbühl loves the law and lives to enforce it. Obsessed by the disasters brought on by drunken driving, Zumbühl stands watch outside the local bar, determined to crack down on inebriated citizens, even if it means arresting the local mayor.

 

The mayor, who owns the gravel pit where Zumbühl’s son Albin operates a crane, retaliates by dumping Albin from the dirt bike team he sponsors, even though Albin – a hunky misfit who stutters – is obviously a splendid rider.

 

Rather than accept demotion on a trumped up charge, Zumbühl resigns from the force and takes a dreary job at the local railroad station. Discovering a savagely raped girl on the tracks, Zumbühl nurses her to recovery while conducting a private investigation. His own son turns out to be the culprit. Zumbühl’s code of honor dictates his next move, with interesting results.

 

Insular mentalities are captured in amber by helmer Urs Odermatt, whose own father was a cop in a comparable setting, and the tale is crisply and intelligently lensed with attention to period decor and (a now nearly lost) regional accent.

 

Performances are tops across the board. The tragicomic tone is nicely abetted by a classically inflected score heavily influenced by Brahms.

Variety, Los Angeles, 23. Oktober 1995

 

*

 

Rolf Breiner, Nidwaldner Zeitung, Stans, 25.8.1994

 

Andrea Casalini, Zürcher Unterländer, Bülach, 14.9.1994

 

Michael Sennhauser, Basellandschaftliche Zeitung, Liestal, 9.9.1994

 

Rolf Breiner, Luzerner Zeitung, 24.11.1993

M.v.H. (Mark van Huisseling)

Schweizer Illustrierte, Zürich, 36/1994

Odermatt dreht mit deutschen Schauspielern, um dann – technisch ganz annehmbar – nachzusynchronisieren. Er tut es auf waschecht nidwaldnerisch und präzise dem Sprachgebrauch von 1966 entsprechend. Dabei küßt er gelegentlich die Grenze des Unverständlichen, selbst für den hellhörigen Sprachkenner.

Pierre Lachat

Filmbulletin, Zürich, 5/1994

 

*

 

Eine wahre Wohltat ist Wachtmeister Zumbühl, die zweite Kinoarbeit des Schweizer Regisseurs Urs Odermatt. Der Film, ganz im atmosphärischen Stil der Romane Friedrich Glausers gehalten, erzählt eine Geschichte aus den sechziger Jahren: Der rechtschaffene Dorfpolizist Zumbühl wird, als er die brutale Tat an einem Mädchen aufklären soll, in einen schweren Gewissenskonflikt verstrickt – die Indizien häufen sich, daß sein Sohn Albin das Verbrechen begangen hat.

Michael Omasta

Falter, Wien, 6/1995

 

*

 

Dem Innerschweizer Urs Odermatt haben wir einen Schweizer Film zu verdanken, der viel mehr hält, als die meisten zu hoffen wagten. Er ist aktuell und witzig, gut gemacht und in seiner träfen Zulänglichkeit fast schon exotisch.

Michael Sennhauser

Basellandschaftliche Zeitung

Liestal, 9. September 1994

 

*

 

Wie sind Sie auf den Stoff von „Wachtmeister Zumbühl“ gestoßen?

 

Ich wollte in meinem neuen Spielfilm eine Geschichte erzählen, bei der ich genau weiß, wovon ich rede. Ich bin ein Kind der sechziger Jahre, der Vater war Dorfpolizist. Damit wollte ich etwas machen: mit dem Mief der engen Nidwaldner Welt vor dreißig Jahren und dem Schicksal eines Jugendlichen, dessen Vater Polizeiwachtmeister ist.

 

 

Ist „Wachtmeister Zumbühl“ ein autobiographischer Film?

 

Wachtmeister Zumbühl ist nicht mein Vater. Wachtmeister Zumbühl ist mein Vater, mein Vetter, mein Onkel, mein Nachbar, dessen Kollege sowie mein alter Schulkamerad, wie dies früher hieß. Ich kannte immer nur Polizisten. Alle Väter waren Polizisten. Uniformierte und solche, die es gern gewesen wären, aber Hausmeister wurden. Ich kenne den Alltag des Polizisten. Den kleinen Schritt zwischen Integrität und Sturheit. Die Versuchung, nahestehende Verdächtige anders zu behandeln als fremde. In der Regel erbarmungsloser

 

 

Im Mittelpunkt von „Wachtmeister Zumbühl“ steht ein Generationenkonflikt. Warum schildern Sie ihn aus der Optik des Vaters, wo Ihnen die autobiographische Sicht des Sohns näher stehen müßte?

 

Das hat mit der Vorliebe zu tun, Geschichten über halsstarrige alte Männer zu erzählen, Dickschädel, wie sie Glauser und Simenon mit Hingabe gezeichnet haben. Im übrigen ist es dienlicher, im eigenen Trachten und Scheitern mit einer fremden Brille zu wühlen: Hält die Skrupel besser in Schach! – Albin ist keine autobiographische Figur: Ich hatte nie einen Norton-Töff...

 

 

Wie in Ihrem ersten Kinofilm „Gekauftes Glück“ geht es in „Wachtmeister Zumbühl“ um einen Außenseiter. Ist diese Außenseiterproblematik für Sie eine spezifisch schweizerische?

 

Warum schweizerisch? Wachtmeister Zumbühl ist kein Schweizer Film. Ich erzähle eine Nidwaldner Geschichte, eine deutschsprachige Geschichte, eine Geschichte aus der mitteleuropäischen Provinz; die Gemeinsamkeiten sind hier viel größer. Ein Dorf in den Ardennen, im Odenwald, in den Karpaten oder in der masurischen Seenplatte hat mehr mit Napfmoos und seinem Dorfpolizisten Wachtmeister Zumbühl zu tun als die Städte Zürich, Basel oder Genf

 

 

Aber um Außenseiter geht es?

 

Gewiß, aber es sind Außenseiter aus freier Entscheidung, Querdenker – berstend von Selbstwert –, die sich abgrenzen wollen: allein gegen den Rest der Welt. Rechthaberische Außenseiter, die recht haben, recht bekommen und im Recht sind – das stolze, gar überhebliche Neben-der-Masse-Stehen –, zahlen dafür einen hohen Preis: Es macht einsam. Wachtmeister Zumbühl erzählt die Geschichte eines Mannes, der ausschließlich nach seinen Prinzipien lebt, seiner Integrität alles unterordnet. Eines Einzelgängers, der recht hat. Eines Besserwissers, der es besser weiß. Eines „Schafseckels“, wie wir in der Schweiz mit Abscheu, Nicken und Respekt sagen.

 

 

Krzysztof Kieślowski, der das Drehbuch dramaturgisch begleitet hat, nannte „Wachtmeister Zumbühl“ eine Geschichte über sechs Millionen Schweizer. Können Sie dem zustimmen?

 

Die sechs Millionen Schweizer sind aus meiner Sicht weniger kompromißlos integere Wachtmeister als vielmehr eifrige Schulmeister, die ein Leben lang nichts unversucht lassen, dem Nachbarn zu zeigen, wie er sich im Leben zu verhalten hat. Aber das trifft nur auf die deutschsprachige Schweiz zu, mit nach Norden offener Grenze. Die Welschen haben andere Laster. Mentalitäten, und mit ihnen die Stoffe der Spielfilme, orientieren sich mit erfrischender Bockigkeit mehr an Sprach- als an Landesgrenzen.

 

 

Wie schon in Ihren früheren Arbeiten haben Sie in „Wachtmeister Zumbühl“ die wichtigen Rollen mit namhaften deutschen Schauspielern besetzt. Warum dies in einem Film, der in der Innerschweiz spielt?

 

Ich arbeite sehr gern mit guten und erfahrenen Schauspielern und versuche, immer die großartigste Besetzung für die Rolle zu finden. Die Arbeit mit den Schauspielern ist neben der Arbeit am Stoff das größte Privileg des Regisseurs. Je erfahrener, auch je arbeitshungriger der Schauspieler, desto einfacher ist die Arbeit. Zicken beim Drehen macht nur die zu ausgeschlafene dritte Reihe.

 

 

Wie sind Sie auf Michael Gwisdek, den Darsteller des Wachtmeister Zumbühl, gestoßen?

 

Ich hatte Michael in Bernhard Wickis Film Sansibar nach dem gleichnamigen Roman von Alfred Andersch gesehen. Er spielte einen Fischer in Rerik an der Ostsee, das Gegenteil eines voralpinen Polizisten, dies am anderen Ende der deutschsprachigen Lande – und trotzdem eine absolut verwandte Figur. Die wortkarge Sturheit, die er kompromißlos durchzog, war so verwandt mit dem bockigen Schweigen meines Wachtmeister Zumbühl, der weiß, was er zu tun hat, daß ich wußte, was ich zu tun hatte: Michael Gwisdek, der DDR-Großstädter aus Ostberlin und Sohn eines Kneipenwirts, der diesen Fischer in Andersch’ Rerik an der Ostsee geben kann, der macht den Wachtmeister Zumbühl in Napfmoos im Kanton Nidwalden.

 

 

Sie hatten nie Bedenken, daß der Ostberliner Sohn eines Kneipenrwirts den Typus des Nidwaldner Polizisten verfehlen könnte?

 

Sicherheit gibt es nicht, jede Besetzung kostet schlaflose Nächte. Um eine Geschichte aus Nidwalden zu besetzen, suche ich nicht in Nidwalden. Neugier, Freimut und Wagnisse – bestes Handwerk ist Voraussetzung! – sind der bessere Entschluß. Die Intuition des Regisseurs trifft die Intuition des Schauspielers: Gibt es die Brücke ohne Worte? Kurze Sprachcodes? Meine Intuition ist ein bockiger Begleiter. Ist sie sich der Sache sicher, läßt sie sich durch nichts beirren. Mit Michael Gwisdek hat sie recht gehabt. Krzysztof Kieślowski hat über die Besetzung der Hauptrolle bis zum Schluß eine Schnute gezogen. Als er den fertigen Film in Cannes gesehen hat, nahm er mich gutheißend in den Arm. Solche Momente vergißt man nicht.

 

 

Der Titel „Wachtmeister Zumbühl“ läßt  an Glausers „Wachtmeister Studer“ denken. Weckt das nicht falsche Erwartungen?

 

Erwartungen darf die Ähnlichkeit wecken, falsch sind sie dennoch. Fast alle Polizisten und Wachtmeister, die wir aus Schweizer Kriminalgeschichten kennen, sind joviale, rumpelsurige, gutmütige und bierbäuchige Zeitgenossen, die auch einmal eine Fünf gerade sein lassen. Wachtmeister Zumbühl ist ein hagerer, asketischer, strenger Einzelgänger, der sich – außer Kodak – nichts gönnt.

 

 

Hatten die deutschen Darsteller in „Wachtmeister Zumbühl“ keine Mühe, sich in die schweizerische Mentalität einzuleben?

 

Welche Schweizer Mentalität? Wachtmeister Zumbühl erzählt eine Dorfgeschichte der sechziger Jahre. Zuschauer in Deutschland, Österreich und anderswo, die die alte Prohibition von Lust und Spaß „janz weit draußen“ noch kennen, wissen, wovon ich erzähle. Zürcher denken, sie seien in einen Drittweltfilm geraten.

 

 

Weshalb ist Ihnen das Zeitkolorit so wichtig, daß man den Eindruck gewinnt, Sie hätten sogar für die Automobiltypen ein aufwendiges Casting veranstaltet?

 

Schauen Sie die Fahrzeuge von heute an, und Sie wissen, warum. Die sechziger Jahre sind die Zeit meiner Jugend. Eine Zeit der Leidenschaft, in der man Augen und Ohren offenhält und Riecher, Gespür und Geschmack geprägt werden. In vielem sind die sechziger Jahre optisch spannender als die Gegenwart. Nicht nur die Physiognomie der Autos; Architektur und Alltagsdesign waren weniger nivelliert, banalisiert, auch infantilisiert, als man es heute oft sieht. Wäre ich damals nachts stockbetrunken in ein fremdes Hotel gestolpert, hätte ich am nächsten Morgen beim ersten Blick aus dem Fenster erkannt, in welcher Gegend ich notgelandet bin: am Stil der Häuser, am Dorfbild, an der Graphik der Gewerbereklame oder der Art der Straßenpflasterung. Heute hilft nur der Blick auf die Autokennzeichen. Auch dramaturgisch boten die sechziger Jahre mehr Zündstoff: Fragen nach Recht und Unrecht, nach Moral und Unmoral, ließen die Diskussionen heißer kochen als in der heutigen Alles-geht-Gesellschaft, in der man immer richtig liegt, solange man politisch – vor allem sprachkorrekt – richtig liegt. Selbstverständlich habe ich für die Autos ein aufwendiges Casting gemacht.

 

 

Sie übersetzen „Regisseur“ lieber mit „Spielleiter“ als mit „Filmemacher“. Hat das mit Ihrer Arbeitsweise zu tun?

 

Ich bin kein Filmemacher. Die Kollegen verstehen von der Filmemacherei, den handwerklichen Dingen um Kamera, Licht und Ton, die man wissen muß, um einen Film zu machen, mehr als ich. Ich bin nicht von der Filmschule zum Film gekommen, sondern vom Schreiben. Ich glaube, eine Ahnung davon zu haben, wie man Dialoge textet, wie man eine Geschichte in Bildern für die Leinwand entwirft und wie man den Schauspielern den Kraftstoff gibt, den sie zum Spielen brauchen. Eine Figur zu schreiben und eine Figur zu spielen, sind zu achtzig Prozent das gleiche Handwerk: Schöpfen aus dem eigenen Erfahrungsrepertoire, emotionales Erinnern, Verdichten von Erlebnissen und Beobachtungen. Später trennen sich die Wege: der Autor schreibt, der Schauspieler spielt. Als Regisseur und Autor profitiere ich vom Wissen aus dem teilweise gemeinsamen Weg.

 

 

Heißt das, daß Sie beim Schreiben einer Figur oder einer Szene des Drehbuchs immer den Schauspieler vor Augen haben?

 

Nicht einen bestimmten Namen, aber ich überlege mir für jeden Augenblick, was der Schauspieler neben Dialog, Handlung, Requisiten und der von der Szene definierten Spielhaltung zur Rollengestaltung an Subtext braucht. Was die Figur denkt und warum, oder warum nicht. Was sie fühlt und warum, oder warum nicht. Ob sie lügt oder petzt, und warum. Oder warum nicht.

 

 

Sie haben kürzlich am Stadttheater Halle Max Frischs „Andorra“ inszeniert. Wie erleben Sie den Unterschied zwischen Ihrer Theater- und Ihrer Filmarbeit?

 

Das Handwerk ist im Grunde dasselbe: die Suche nach der Wahrheit in jeder Figur, in jedem Wort, in jeder Geste. Beim Film kann ich aber oft nicht chronologisch, das heißt, von Anfang bis Ende durcherzählen, sondern muß mich nach den Forderungen des Drehplans richten, der andere Schwerpunkte setzt, die Termine der Schauspieler etwa, oder das Zurverfügungstehen der Drehmotive, das Wetter, das Budget an Drehtagen. Das Theater kennt das Wunder der Großaufnahme nicht, der Film nicht das der Interaktion mit dem Publikum. Beim Film habe ich die Möglichkeit, eine Aufnahme zu wiederholen – bei Nahaufnahmen entlarvt die Kamera erbarmungslos jeden Hauch von Lüge und verlangt vom Schauspieler beharrlich hundertfünfprozentiges Spiel, während dieser auf der Bühne zu nutzen weiß, daß die erste Zuschauerreihe drei, vier Meter weit entfernt ist. Das Spiel im Theater ist live und ohne Netz, und – trotz des Unterbaus und der Brücken, die in den Proben erarbeitet werden – auf der Bühne steht der Schauspieler allein. Die Kamera fordert die Grenzüberschreitung in jedem Frame, die Bühne die Wiederholbarkeit  des Spiels an jedem Theaterabend.

 

 

Arbeiten Sie lieber fürs Theater oder für den Film?

 

Fürs Theater. Für den Film. Fürs Theater natürlich. Natürlich für den Film. Ich brauche Bedenkzeit.

 

 

Wie lange?

 

Ein Leben lang.

 

 

Aber im Theater fällt in der Regel die Arbeit an einem eigenen Stoff, die Ihnen so wichtig ist, weg?

 

Nicht die Aneignung. Ich schlage Stücke vor, die mit mir zu tun haben, die ich ernte und mir zurechtknete, die ich gar im Widerspruch zu den ursprünglichen Absichten des Autors interpretiere, um einen Aspekt herauszuarbeiten, der mich interessiert, in dem ich ein Stück Wahrheit finde. Auch das ist Werktreue. Ich kann mir nicht vorstellen, etwas zu inszenieren, zu dem ich keinen Bezug habe. Weder auf der Bühne noch für die Leinwand. Der Bezug muß nicht inhaltlich sein; formale, rhythmische oder dekonstruierende Nähe schafft enge Komplizenschaft – ich fände auch einen Zugang zum Telephonbuch von Wanne-Eickel

 

 

„Gekauftes Glück“ war der erfolgreichste Schweizer Film des Jahres 1989. Es gab heftige Gegenstimmen bei der Kritik.

 

Stimmte mir Publikum und Kritik nur zu, hätte ich das Gefühl, ich hätte alles falsch gemacht. Bei Gekauftes Glück war das Echo um so strittiger, je näher es vom Schauplatz des Geschehens, Nidwalden und der Innerschweiz, kam. Das zeigt, daß ich einen Nerv getroffen habe. Unbequeme Wahrheiten erhitzen die Gemüter und bringen den Überbringer in Bedrängnis. Ich erzähle Geschichten weder als Unterhaltungskino noch als kalorienarmes Cinéphilenfutter. Die Weigerung, mich zwischen Kommerz und Kunst zu entscheiden, mag Kritiker ärgern, weil ihnen die Genreschublade abhanden kommt. Sie werden sich auch in Zukunft ärgern: Wachtmeister Zumbühl ist weder lautes Mainstreamkino noch ein sperriger Studiofilm. Er erzählt die Welt des Wachtmeister Zumbühl, des rechtschaffenen Dorfpolizisten von Napfmoos. Mit meinem Handwerk gebaut. In meiner Handschrift erzählt.

„...daß ich einen Nerv getroffen habe.“

Gespräch mit Urs Odermatt

 

Alfred Nathan, Mainz, ist der

ZDF-Redakteur von „Wachtmeister Zumbühl“

 

*

 

Stans, 13. Februar 1991

(...) Im übrigen ist zu bedauern, daß Sie Land und Leute von Nidwalden in einer Art und Weise darstellen, die dem Charakter und dem Wesen des Nidwaldners nicht sehr nahe kommt. Dieses Bedauern hat seinen Ursprung nicht in Betroffenheit, sondern vielmehr in der Ungewißheit, welche Motivation Sie zu einer solchen Zeichnung veranlaßt. Der Gemeinderat von Stans ist nicht willens, das vorliegende Projekt Wachtmeister Zumbühl zu unterstützen und seinen Namen darunter setzen zu lassen.

Gemeinderat Stans

 

*

 

Die Dialoge zeugen von der verzweifelten Sprachlosigkeit der Menschen in Napfmoos: Meist beendet ein hingeraunztes „Schafseckel“ die Gespräche. In diesen Momenten schafft Urs Odermatt Szenen von absurder Komik, die in ihrer Sprödheit bestechen.

 

(…) Eine glückliche Hand hatte Urs Odermatt auch bei der Wahl seiner großartigen Schauspieler. Theaterprotagonisten wie die Gebrüder Schwientek, Rolf Hoppe, Ueli Jäggi oder Michael Maassen prägen den Film mit ihrem ausdrucksstarken Spiel; der frühere DDR-Filmstar Michael Gwisdek verkörpert die Titelrolle mit einer derartigen Präsenz, daß eine andere Besetzung beinahe undenkbar scheint.

Sibylle Matt

Appenzeller Zeitung, Herisau, 30. August 1994

 

*

 

Dienstchef Kayser

Gemeindepräsident Mathis ist ein sehr sicherer Kraftfahrer. Für ihn lege ich die Hand ins Feuer.

 

Wachtmeister Zumbühl

Mit 2,8 Promille kann er nicht einmal sicher pissen.

 

Dienstchef Kayser

Gestern abend war Dorffest. Wie kannst du...?

 

Wachtmeister Zumbühl

Wer fährt, säuft nicht.

 

Dienstchef Kayser

Du bist ein Dickkopf! Wir...

 

Wachtmeister Zumbühl

Wer kratzt die Leichen vom Asphalt? Du oder ich?