Urs Odermatt Arnold Odermatt The Odermatt Channel The Odermatt Shop Nordwest Film AG, alte Spinnerei 1, 5210 Windisch, Schweiz, +41 56 442 95 90, mail@nordwestfilm.ch Theater Stück Dramaturgie Inszenierung Presse Photos

I.

 

Felix

Wie war der Tag?

 

Sonja

Tablettengruppe war. Supermarkt. Rumgelaufen. „Hawaiiviertel“, „Kaufplantage“, „Bikinibar“. So ein Ouatsch.

 

 

Felix und Sonja sind ein Paar. Sie erwarten ein Baby als Bauchgeburt. Damit ist der natürliche Vorgang einer normalen Schwangerschaft gemeint. In jener Zeit aber haben sich die Vorzeichen ins Gegenteil verkehrt. Das Natürliche entwickelt bedrohliche Ausmaße, weil es sich jeglichem Kalkül entzieht. Sonja kämpft mit der Unsicherheit nicht zu wissen, was auf sie zukommen wird: „Ich merk’ was in meinem Bauch. Manchmal geht’s durch den ganzen Körper spazieren. Wenn ich nur wüßt’, ob’s gutartig ist oder bös’. Es ist so unbekannt.“

 

 

II.

 

Felix ist derjenige, der sich darum bemüht, vergangenes Wissen zu rekonstruieren, vielleicht, um sich selbst zu einer Identität zu verhelfen. Er redet über den Prozeß der Evolution: „Sonja! Sonja! Sonja! Die sucht ein Meer vielleicht. Dabei ist eins in ihr drin. Ich such’ oft ein Meer, wenn ich durch die Nacht spazier’. Der Mensch kommt am dem Meer. Damals. Das waren Zeiten, am Meer. Das war ein anderes Leben. Das sich versteckt, jetzt.“

 

Felix will die bevorstehende Geburt live ins Netz stellen. Dies erweckt Begehrlichkeiten. Peter, Felix’ Bruder, erscheint und will teilhaben am Vermarktungsprozeß. Larissa, eine Figur wie Schneewittchen, erscheint und sucht den Kontakt zu Felix. Einige Chatter melden sich zu Wort: entweder wollen sie das Baby kaufen, mit einem Werbevertrag ausstatten oder in die Kindergartengruppe aufnehmen.

 

 

III.

 

Rolf Kemnitzers Stück Die Bauchgeburt spielt in der Zukunft. Es herrscht Endzeitstimmung, die Menschen werden beherrscht von rigiden Machtstrukturen. Es gibt Überwachungssysteme, Leute werden eingestellt und wieder gefeuert.

 

Die Medien spielen eine dominierende Rolle; gesellschaftliche Kommunikation findet fast ausschließlich über Internet und Monitor statt. Drogen betäuben. Spürbar ist die soziale Verkümmerung: Alle sind anwesend, aber mit sich beschäftigt. Das „Gemeinsame“ ist Vorführung, ist Spiel.

 

Felix: „Man muß nichts sagen. Ich hab’s ausprobiert, wo ich hier saß die ganze Zeit, da hab’ ich die ausprobiert, die ganze Sprache. Die spricht nicht. Jeder sitzt auf seinem eig’nen Planeten. Dazwischen der unendliche Raum. Den gibt’s. Den hab’ ich erlebt in meinem Kopf.“

 

Schließlich kommt das Baby zur Welt.

Holger Schröder

Melodie der Erinnerung, Gedanken über Rolf Kemnitzers Stück „Die Bauchgeburt“

Programmheft zur Uraufführung, Saarländisches Staatstheater, Saarbrücken 2002

Felix’ Freundin Sonja ist schwanger. Das stellt in einer Zeit, in der Babys normalerweise nicht mehr im Mutterleib ausgetragen werden, eine medizinische Besonderheit dar, und Felix, in seiner Firma kürzlich zum main loser gewählt und somit arbeitslos, stellt diesen außergewöhnlich menschlichen Vorgang ins Netz, um zahlreiche Chatter an der echten Bauchschwangerschaft teilnehmen zu lassen.

 

Auf dem Bildschirm erscheinen so unter anderem Transvestiten, eine Kindergärtnerin und ein altes Hippiepärchen, das Interesse zeigt, das natural born belly-baby zu kaufen. Sonja, die die Peinlichkeit der Bauchschwangerschaft am liebsten verschweigen würde und sich mit Tabletten ruhig hält, versteht das Interesse nicht. Sie zieht vorübergehend zu Felix’ zynischem Bruder Peter, während die pubertär-schrille Larissa Felix vor laufender Kamera zu verführen versucht.

 

Das Geschehen wird zunehmend zur Show: vier Millionen verfolgen den Fortgang, und nachdem Sonja das Kind geboren hat, wird ihr Wiedersehen mit Felix von verschiedenen Kamerateams aufwendig inszeniert. Leider fällt dem frischgebackenen Vater partout nichts Euphorisches ein. Außerdem versteht sich das Baby nur mit Larissa, die einen groß in Mode gekommenen künstlichen Bauch umgeschnallt hat.

 

Also muß eine Kunstfamilie her, die auf dem Monitor glückliches Beisammensein suggeriert, während Sonja und Felix jenseits der Kamera in verlöschendem Licht von der Flucht träumen.

 

*

 

Rolf Kemnitzer, geboren am 28. April 1964 in Langenfeld bei Scheinfeld, ist ein deutscher Dramatiker und Regisseur. Er lebt seit 1998 als freier Autor in Berlin. Kemnitzer hat mehrere Theaterstücke verfaßt, die im Verlag der Autoren erschienen sind. Seit 2014 ist er im „Interkulturellen Theaterzentrum Berlin e.V.“ als Theaterpädagoge tätig. Seit 2017 arbeitet er als Regisseur für die „Dramatische Republik“, eine Berliner Gruppe von Theaterschaffenden, die monatlich zeitgenössische Dramatik präsentieren.

Die Bauchgeburt von Rolf Kemnitzer