Urs Odermatt Arnold Odermatt The Odermatt Channel The Odermatt Shop Nordwest Film AG, alte Spinnerei 1, 5210 Windisch, Schweiz, +41 56 442 95 90, mail@nordwestfilm.ch Theater Stück Dramaturgie Inszenierung Presse Photos

Es herrscht Krieg im Dorf. Von sexuellem Mißbrauch ist die Rede. Die zugezogene Trix Brunner macht den Sportlehrer als Übeltäter aus. Und Trix’ Tochter Saskia mutiert zur Haßmaschine. Urs Odermatts Theatererstling Der böse Onkel rauht das zähe Problemgenre mit viel Brit-Furor à la Ravenhill auf. Viel Klischees und kollektives Psychodrama: Doch in den besten Regiemomenten zaubert Odermatt tieferlotendes Traumbildertheater in die „Tonne“.

 

Es gab eine Zeit, da das Thema sexueller Mißbrauch richtig Mode wurde. Landauf, landab spielte man gutgemeinte Präventionsstücke mit Titeln wie „Mein Körper gehört mir!“. Und irgendwann, als auch noch das „Projekttheater Vorarlberg“ die hinterste Provinz mit Stücken wie „Vatertag“ problemversorgte, als auch noch die Gruppe „Pur“ mit „Kinder sind tabu“ aufsprang, flaute das Interesse wieder ab – so ist das leider im Zeitalter der medienbeeinflußten Massen und massenbeeinflußten Medien.

 

Der böse Onkel, der Theatererstling des Drehbuchautors, Bühnen- und Filmregisseurs Urs Odermatt, hat mit derlei Political Correctness wenig am Hut. Im Gegenteil: Odermatts Stück blickt ins Auge des Taifuns und geht der „Faszination des Bösen“ auf den Grund. Zunächst allerdings mit einer ganzen Reihe wohlfeiler Klischees. Klar, daß der mädchengrapschende Schwimmsportlehrer Armin Tom Jones’ „Sex Bomb“ grölt und Ausländer haßt. Klar doch, daß Trix, die Mutter der Armin-Schülerin Saskia, eine besserwisserische Alt-68erin ist. Ebenso naheliegend, daß der schwule Musiklehrer Dr. Jacobi x-beinig stottern, häufig seine Brille verlieren und sich am Ende erhängen muß.

 

Doch auf der Grundlage dieses eher schmalen Knallchargenplots entwickelt Odermatts Stück dann doch eine erstaunliche Breite, eine ungeahnte Tiefe, eine sogartige Rasanz. Sexueller Mißbrauch von Abhängigen, so zeigt der Verlauf seines 120-Minuten-Dramas, ist nur eine Facette von vielen vernetzten Themen: Das Dorf als verschworene Gemeinschaft, der Außenseiter als Sündenbock, der Kampf der Generationen – all das verknüpft der Autor zu einer ambitioniert gepatchworkten Zeitanalyse.

 

Wobei Odermatt als Regisseur dazu neigt, seinen realistisch grundierten, drehbuchartig gestrickten Bühnenplot per Inszenierung zu stilisieren, zu abstrahieren. Dorfladen, Kneipe, Gemeindehaus, Zeitungsredaktion – Bühnenbildner Dirk Seesemann beschränkt sich auf eine einzige Chiffre, ein Schwimmbadinterieur.

 

Und der Auftritt der Schauspieler durch Röhren ist mehr als ein Gag: Die Mimen purzeln wie Rohrpostsendungen auf die Bühne. Jeder Auftritt eine mehr oder weniger geglückte Rutschpartie. Jeder Auftritt eine kleine Menschengeburt. Ein tiefer, ungebremster Fall auf den harten Boden der Bühnenwirklichkeit.

 

Odermatts Regie und Seesemanns Ausstattung ermöglichen es, daß die Schauspieler recht frei-assoziativ mit dem Stoff umgehen können. Cornelia Hampens zugezogene Mutter Trix Brunner ist die beherzte Frau mit verwitterten Idealen, Michael Schernthaners Sportlehrer Armin der körperkultige Großmaulnarziß. Sabine Hollweck wertet ihre Schulamtsdirektorin als kämpferisch-leidende Dicke auf, und Felicitas Breest zeichnet Saskia als einsame Tochter einer sich selbstverwirklichenden Mutter Trix, als Wutmaschine, als Zombiegirl, das in geistigen Amokläufen Kettensägenmassaker und (gespenstisch aktuelle) Pumpgunsalven zusammenphantasiert: „Abgefackelt. Abgeschlachtet“, „Im Toaster geröstet“, „Gevierteilt“, „Binladenisiert. Gebusht. Geblairt. Geschrödert“, „Hiroshima. Nagasaki“.

 

Odermatt verunsichert scheinbar klare Pro-und-Contra-Positionen: Am Ende kapituliert Trix („Ich komme nicht zurecht. Ich brauche Hilfe.“) und legt einen Brand. Saskia, so deckt der Epilog auf, war als einzige Schülerin kein Opfer des bösen Onkels. Und das Sportlehrerpaar macht weiter wie bisher. „Liebst du mich?“, fragt Anja Kimmelmanns tonlose Silvia. „Ja, ich dich auch“, flüstert der böse Narziß Armin.

 

Viel Nacktheit, fiese Schimpfe und tapferes Frontalspiel. Daß die Mimen ab und zu aus dem Spiel rausfallen, über ihr Schicksal klagen („Kunst? In Reutlingen?“) und zu Bettlern mit künstlichem rumänischem Darmausgang mutieren („Kaufen Sie ein Programmheft? Bitte!“), trägt zwar nicht wirklich zur Erhellung des Themas bei, dokumentiert aber schön ironietriefend, daß es die „kleine Tonne“ in der theateruninteressierten Großstadt Reutlingen nicht eben leicht hat. Dennoch: Odermatt hat sich umgeguckt, kreuzt als Autor Kroetzens Dorftragödien mit Ravenhills kaputtem Brit-Furor, gibt noch Castorf-Wildheit und Splattermovie bei – ein überladener, aber streitbarer Versuch. Als routinierter Regisseur strafft er seinen Theatererstling aber zur rasanten Groteske.

 

Statt banaler Anklage zaubert er in einigen exzellent choreographierten Szenen tieferlotende (Alb-)Traumbilder auf die Bühne. So kommt es, daß in den besten Momenten all die angerissenen Themen plötzlich verknüpft scheinen. Dann avanciert die Inszenierung zur bizarren Zeitanalyse, zu einem dunkel funkelnden Essay über Sexualität und Macht.

Otto Paul Burkhardt

Liebst du mich? Ja, ich dich auch – Urs Odermatt inszeniert seinen Theatererstling als Furioso über Sexualität und Macht

Reutlinger Nachrichten, 29. April 2002

 

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Nein, es soll kein „anwaltschaftliches“ Drama sein. Wenn Der böse Onkel, Urs Odermatts Bühnenstudie zum Thema sexueller Mißbrauch, am Samstag in der „Tonne“ uraufgeführt wird, geht es um „Abgründe, Schicksale und dramatische Wendungen“. Odermatts Vorabfazit: „Eher ein Täter- als ein Opferstück“.

 

So gesehen, spielt doch von ferne Odermatts Beschäftigung mit dem Krimigenre eine Rolle – der 47jährige Regisseur und Autor aus Stans im Schweizer Kanton Nidwalden hat (unter vielem anderem) einen Tatort mit Winfried Glatzeder gedreht, mehrere Lisa-Falk-Folgen mit Ulrike Kriener und einen Polizeiruf 110 mit Angelica Domröse. Denn auch im Kriminalfilm gehe es „nicht um die Leiche“, sondern um Ursachenforschung, Täterprofile, um die „Faszination des Bösen“.

 

So will Urs Odermatt das Thema sexueller Mißbrauch „nicht aus der Sicht des Gutmenschen“ abhandeln, auch „nicht unbedingt schülerkompatibel“. Er sieht die Thematik eher als „Steinbruch“ – „fürs Finden von Abgründen, von Menschen im Zustand des Scheiterns“.

 

Für Odermatt, der „möglichst paritätisch für die Bühne und für die Kamera“ arbeitet, ist Der böse Onkel das erste eigene Stück fürs Theater. Im Kamerabereich ist er als Regisseur und Drehbuchautor tätig, in Doppelfunktion bei Streifen wie Rotlicht! mit Uwe Ochsenknecht (1986) oder Wachtmeister Zumbühl (1993) mit Mephisto-Göring Rolf Hoppe. Für die Bühne inszenierte er bisher moderne Klassiker wie Max Frisch und Thomas Bernhard, aber auch aktuelle, jüngere Autoren wie den Bayern Rolf Kemnitzer (am Staatstheater Saarbrücken) und den Briten Martin McDonagh (am Staatstheater Oldenburg). Jetzt also ein eigener Text. Die „Kerngeschichte“, so Odermatt, sei nach acht Wochen Probenzeit zwar „noch dieselbe“, doch habe er viele Passagen „weiter geschrieben“ und dabei „Impulse von Schauspielern“ aufgegriffen.

 

Mit acht Mimen (vier „Tonne“-Leute, vier Gäste) ist Der böse Onkel für die Kleintheaterdimensionen der „Tonne“ eine ziemlich aufwendige Produktion. Im Film, sagt Odermatt, gehe es ihm um „Illusion“, im Theater aber um „Abstraktion“, „Behauptung“, um „fast requisitenloses Frontalspiel“.

 

„Ein Schauspieler spielt einen Schauspieler, der eine Rolle spielt“, nach diesem Ansatz richtet Odermatt seine Theaterproben zuerst aus – weil’s dem „assoziativen Findungsprozess“ dient. So kann es vorkommen, daß sich Reste dieses Probenansatzes noch in der Premièrenfassung des Stücks wiederfinden.

 

Der aus Magdeburg stammende 33jährige Bühnenbildner Dirk Seesemann, Malsaalvize an der Staatsoper Berlin mit Lehrauftrag am Salzburger Mozarteum, hat für Der böse Onkel in der „Tonne“ eine Art Laufstegpodium gezimmert (längs in den Zuschauerraum hineinragend), das an ein Schwimmbad, eine Sporthalle, vielleicht auch an einen sakralen Raum erinnert.

 

Ansonsten: Die „Tonne“-Connection zu Urs Odermatt rührt von anno 1993 her – damals inszenierte Odermatt in Halle Max Frischs Andorra, der heutige „Tonne“-Intendant Enrico Urbanek war seinerzeit als Assistent dabei.

 

Und apropos eigene Texte inszenieren: Die angenehmerweise „so wenig fremdbestimmte“ Arbeit am kleinen „Tonne“-Theater habe ihm da richtig den Mund wässrig gemacht: „Das schmeckt eigentlich nach mehr.“

Otto Paul Burkhardt

Ein Frontalspiel – Urs Odermatt inszeniert

Reutlinger Nachrichten, 25. April 2002

 

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Ein massiver, weißgekachelter Steg führt direkt auf die Bühne zu, wo man bestimmt nicht hin will als Zuschauer. Man ist exponiert wider Willen, spürt vielleicht ein leises Unbehagen, taucht ein ins Halbdunkel der tieferliegenden Sitzreihen, läßt sich erleichtert zurücksinken zwischen den anderen Theaterbesuchern, zurück in die Anonymität.

 

Bühnenbildner Dirk Seesemann versteht sich auf die leise Irritation. Die Bühne ist ebenfalls weißgekachelt, vier dicke Metallröhren (aus denen die Schauspieler donnern werden) ragen aus der Wand, davor ein messingfarbenes Gestänge (Schwimmhalle? Labor? Kraftraum?). Ein Mädchen, nackt, fixiert die Zuschauer, nimmt sich Zeit, hält die Hände vor Brust und Scham, sagt: „Das ist jetzt peinlich.“ Von Anfang an sind die Zuschauer Voyeure wie der böse Onkel seinerseits im ersten Bühnenstück des Schweizer Filmemachers und Regisseurs Urs Odermatt, das am Samstagabend im Theater in der Tonne uraufgeführt wurde.

 

Der böse Onkel ist der Sportlehrer Armin, der Schülerinnen sexuell belästigt und damit lange durchkommt in seinem Dorf. Nur eine zugezogene, alleinerziehende Mutter namens Trix ist alarmiert, als die eigene Tochter in Armins Visier gerät. Der Rest des Dorfs mauert. „Ware er ein Sauhund, wüßten wir das.“ Jetzt stehen die Fronten. Niemand kann mehr hinter das zurück, was öffentlich ist. Daß jetzt nicht bloß eine Schlammschlacht folgt, liegt an der Ambivalenz der Figuren, ist aber auch das Verdienst der acht Schauspieler. Sie zerstückeln die Story, fallen einander ins Wort, beenden die Sätze der anderen, wiederholen einzelne Wörter wie ein höhnisch-ironisches Echo; eine Rolle, die vor allem ein Chor in wechselnder Besetzung mit Bravour übernimmt.

 

Nach solchen Tableaus gehört die Bühne, dann ganz Kammerspiel, wieder Trix (Cornelia Hampen) und ihrer Tochter Saskia (Felicitas Breest), die erbittert nicht mit dem Sportlehrer, sondern mit ihrer Mutter abrechnet. „Ich sag’ es nicht gern, aber ich hasse meine Mutter.“ Diese schafft es nicht, die fiese Schulamtsdirektorin Fricker (Sabine Hollweck) zum Einschreiten zu bringen; für Dorfjournalisten Koniecka (Thilo Prothmann) hat sich das Thema sexueller Mißbrauch seit Jahren überlebt, und Armins Frau Silvia (Anja Kimmelmann) will sich trotz allem nicht für ein Leben allein entscheiden.

 

So werden eher Trix und Saskia zu zentralen Figuren, während Armin (Michael Schernthaner) nach einem prononcierten Einstieg als selbstverliebter Kotzbrocken eher an den Rand tritt. Der schwule Musiklehrer Dr. Jacobi (Carl-Herbert Braun) gibt den Running Gag, kommt aber am schlechtesten aus der Affäre heraus.

 

Zum Ende der zweistündigen Aufführung hin wirkt das Stück vielleicht ein bißchen überfrachtet. Aus der Böse-Onkel-Story ist eine Abrechnung des 47jährigen Regisseurs mit seiner eigenen Generation geworden. Diese 40- bis 50jährigen haben abgewirtschaftet und die Jüngeren, Nachfolgenden längst in ihre persönlichen Desaster und politischen Desillusionierungen hineingezogen.

dhe

Schwimmen gehen

Schwäbisches Tageblatt, 29. April 2002

 

 

Schon die Fabel dieses Stücks reizt zum Widerspruch, weil sie so offensichtlich kolportagehaft ist. Sie schält sich nackt und angreifbar (diese Vokabeln drängen sich bei dieser Produktion auf) aus zwei Stunden Schauspielerhochleistungssport auf. Die Darsteller sind große Klasse, keine Frage, sie exekutieren Urs Odermatts perfektionistischen Bühnendrill fabelhaft und lassen zugleich in menschliche Abgründe blicken. Aber was soll eigentlich vermittelt werden in Odermatts Stück Der böse Onkel? Daß wir alle dreckige Schweine sind? Daß unsere Blicke nur auf Genitalien geiern? Daß wir Außenseiter ausgrenzen? Sicher etwas Wahres daran, doch in der plumpen Anmache einer Publikumsbeschimpfung nicht zu bewältigen.

 

„Reden Sie über Ihren Orgasmus“, wird befohlen. Aber die Premièrengäste am Samstag in der „Tonne“ grinsten allenfalls. Die bemühten Tabubrüche wollten nicht so recht provozieren. Eher ärgerten die zu vielen Abschweifungen, die die Aufführung in die Länge zogen.

 

Die Story ist teilweise ganz dicht an einer brennenden Wirklichkeit dran, insgesamt aber lausig erfunden: In einem Gymnasium auf dem Dorf unterrichtet ein selbstgefälliger ehemaliger Landesmeister im Turmspringen die Mädchen im Sport. Als ihr kumpelhafter „Onkel“ betatscht er sie beim Schwimmtraining und treibt geile Spielchen in der Dusche mit ihnen. Die 15jährige Saskia erzählt ihrer Mutter Trix Brunner davon, und diese zeigt ihn bei der Schulbehörde an. Die Schulamtsdirektorin, die dem „Onkel“ auch ihren fülligen Körper gelegentlich zur Verfügung stellt, läßt sie aber abblitzen. Fortan ist Trix Brunner im Dorf isoliert, alle sind gegen sie, denn der „Onkel“ ist ein angesehener Sportheld und sie nur eine Zugezogene. Auch Saskia attackiert sie, denn sie will keine Außenseiterin sein, so schlimm sei der „Onkel“ nun doch nicht. Nur im schwulen Musiklehrer Dr. Jacobi findet Trix Brunner einen Mitstreiter. Doch den macht der „Onkel“ mit einer ekelhaften Samenspendenintrige fertig, bei der er ihn beim Onanieren filmen läßt. Zuvor hat er noch Jacobis Papageien den Hals umgedreht. Dr. Jacobi hängt sich auf. Als auch des „Onkels“ vielfach betrogene Ehefrau vor einer Aussage kneift, läuft Trix Brunner Amok. Mit vorgehaltener Pistole zwingt sie die Schulamtsdirektorin, deren Tochter Nadja offenbar vom „Onkel“ geschwängert wurde und die nun von ihr Hilfe erwartet, sich auszuziehen. Die Kleider übergießt sie mit Benzin und zündet sie an. Aber sie übertreibt’s versehentlich, sodaß das ganze Rathaus in Flammen aufgeht. Die beiden Frauen überleben zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Und zu guter Letzt – dies ist im gedruckten Text im Tonne-Programmheft nicht mehr vermerkt – schreit Saskia ihren Frust heraus, daß sie das einzige Mädchen war, das der „Onkel“ nicht begrapscht hat.

 

Diese Geschichte zu glauben, braucht es viel guten Willen. Wo gibt es ein Dorfgymnasium, in dem nicht wie üblich Lehrerinnen die Mädchen im Sport unterrichten, sondern Männer? Die Antwort ist einfach. Sie steht im Stück: Das ist in Reutlingen. Als Trix Brunner die Schulamtsdirektorin hüllenlos sieht, ruft sie verwundert aus: „Sie rasieren sich die Muschi? Ich denke, wir sind in Reutlingen.“ Die dürftige soziale Kompetenz spiegelt auch in der höhnischen Aussage, die billige Wäsche der Schulamtsdirektorin sei von Aldi. In diesem engen Dorf Reutlingen reden indes die 13- bis 15jährigen Mädchen abgefackt wie Nutten.

 

Trotz allem kann man diesen zweistündigen Theaterabend nicht als verloren bezeichnen. Aber Odermatt verliert das durchaus an die Nieren gehende Thema des Machotrainers, der gar nicht auf die Idee kommt, er dürfe sich der Körper seiner schutzbefohlenen Kinder nicht bedienen, und der Mädchen, die halb geschmeichelt sind und zugleich zutiefst verstört, nach etwa der Hälfte der Aufführung aus den Augen und schlingert dann durch die Katastrophen der Hinrichtungen des Homosexuellen und der Direktorin. Nebenbei kommt allerlei am Rande zur Sprache, Männerphantasien, Klischees, und immer wieder treten die Schauspieler aus der Rolle und spotten oder schimpfen über ihre private Situation, über Reutlingen, die Schwaben und die „Tonne“.

 

Die besondere Klasse erhält die Produktion durch die Inszenierung, in welcher der regieführende Autor offenkundig eine bewußte Gegenästhetik zu seinem realistischen Filmschaffen aufbaut. Dirk Seesemann schuf dafür ein phantastisches Bühnenbild, das ein Schwimmbad andeutet: Ein weißgekacheltes Podest mit Steg durch die Zuschauerreihen, auf das vom Marktplatz aus vier Metallröhren durch die Kellerfenster führen, durch die die Darsteller ins Spiel rutschen.

 

Daß Der böse Onkel ursprünglich als Hörspiel geschrieben wurde, ist noch an den geradezu choreographisch aufgeteilten Textsequenzen zu erkennen, die von den Schauspielern in beeindruckender Virtuosität frontal ins Publikum gesprochen werden. Dabei gurren und miauen sie, simulieren Geräusche und Popmusik. Vielleicht deuten auch die Gesangseinlagen darauf hin, die unter anderem Felicitas Breest und Sabine Hollweck mit großer Stimme mehr brüllen als singen. Überhaupt ist der Ton insgesamt sehr laut und angriffslustig. Dazu bewegen sich die durchweg weiß gekleideten Darsteller oft schweißtreibend sportiv.

 

Als Entdeckung ist die gerade von der Ausbildung kommende Hamburgerin Felicitas Breest zu feiern: Sie spielt eine durch und durch aggressive Saskia, die ihren Haß gegen die Mutter, gegen Babys und die ganze Welt glaubhaft macht. Sie bietet eine aufwühlende Charakterisierung eines Mädchens, das den Mißbrauch ihres Körpers bewältigen muß. Da ist es vollkommen unverständlich, daß Odematt diese Saskia am Schluß als Lügnerin hinstellt.

 

Die in sich schlüssigste Figur ist der „Onkel“, Diplomsportlehrer Armin, phantastisch voller Energie gespielt von Michael Schernthaner, ebenfalls erstmals in Reutlingen. Großartig auch Carl-Herbert Braun als Jacobi. Ruth Wettstein wird sehr kämpferisch von Cornelia Hampen dargestellt. Jeweils mehrere Rollen bewältigen Sabine Hollweck, Gesche Picolin, Anja Kimmelmann und Thilo Prothmann. Dazu kommt noch eine Hand voll mutiger Statistinnen, die zweimal unbekleidet im Waschraum Handtuchfangen spielen.

Monique Cantré

Kleine Revue der Tabubrüche

Reutlinger General-Anzeiger, 29. April 2002

Der böse Onkel von Urs Odermatt